08. November 2024

Innovation in der digitalen Bildungslandschaft

„Von Vision zu Veränderung – Ein Gespräch mit …“ ist unser Interviewformat, mit dem wir jeden Monat mit spannenden Bildungsprotagonist:innen in den Austausch treten und deren Blick auf das Bildungssystem erhalten wollen. Dabei wollen wir sowohl über aktuelle Themen sprechen als auch von den Visionen erfahren, die unsere Gesprächspartner:innen für das Bildungssystem haben.

Berlin/Düsseldorf. 08. Nov. 2024 Güncem Campagna ist Gründerin und Geschäftsführerin der gemeinnützigen „Tech and Teach gGmbH“ sowie 1. Vorsitzende des „Women in Tech e.V.“. Mit ihrer Arbeit setzt sie sich leidenschaftlich dafür ein, digitale Bildung für alle Altersgruppen zugänglich zu machen und besonders Mädchen und Frauen den Zugang zu Tech-Berufen zu erleichtern.

Das Interview mit Güncem Campagna

Güncem, Du bist Gründerin und Geschäftsführerin von tech & teach – was genau macht ihr denn? Kannst Du uns das Unternehmen kurz vorstellen?

tech & teach ist ein Bildungsunternehmen mit verschiedenen Initiativen, die auf spezifische Zielgruppen zugeschnitten sind. Zum Beispiel gibt es die Initiative “Coding for Tomorrow”, die wir in Zusammenarbeit mit der Vodafone Stiftung durchführen und sich an Schulen richtet. Mit der “Codingschule” sprechen wir Erwachsene an, insbesondere diejenigen, die in irgendeiner Form benachteiligt sind. Hier vermitteln wir technische Fähigkeiten. Darüber hinaus haben wir Förderprojekte, die sich speziell an Frauen oder andere unterrepräsentierte Gruppen in der digitalen Welt richten.

Wie kam es denn dazu, dass Du diesen Weg eingeschlagen und tech & teach gegründet hast?

Vor etwa zehn Jahren habe ich gemerkt, dass meine digitalen Fähigkeiten einfach nicht mehr ausgereicht haben. Damals konnte man noch in großen Unternehmen ohne großartige Digitalkenntnisse arbeiten, aber das hat sich schnell geändert. Als ich mich beruflich verändern wollte, wurde mir klar, dass digitale Skills eine absolute Voraussetzung waren. Also habe ich angefangen, mich im digitalen Marketing weiterzubilden, an Workshops teilgenommen und Netzwerktreffen besucht. So kam ich schließlich auch in die Startup-Szene. Schnell fiel mir auf: Es gibt kaum Frauen in diesem Bereich Das hat mich ziemlich frustriert.

Also habe ich ein Frauennetzwerk gegründet, um ihnen die Angst vor Technologie zu nehmen und sie weiterzubilden. Es war aber schwer, sie zu erreichen. Irgendwann wurde mir klar, dass man bei den Kindern und Jugendlichen anfangen muss. Vor achteinhalb Jahren haben wir einen Programmier-Workshop für Mädchen organisiert – mit großem Erfolg. Das war der Startschuss für die „Coding-Schule“, zunächst für Kinder und Jugendliche, aus dem dann später „Coding for Tomorrow“ entstand. Die Förderung von Frauen bleibt dabei ein zentrales Thema, und jedes Jahr starten wir neue Projekte dafür.

Sehr spannend! Welche digitalen Kompetenzen sind denn heutzutage unverzichtbar geworden, worauf fokussiert ihr euch bei der Arbeit mit Schüler:innen?

Was wir heute vermitteln, hängt stark von der Zielgruppe ab. Bei Kindern vermitteln wir den Umgang mit digitalen Tools oft spielerisch. In der Grundschule machen die Kinder beispielsweise Stop-Motion-Filme. Sie bringen Spielsachen mit, stellen sie auf und erwecken die Figuren in ihren Geschichten zum Leben. Dabei lernen sie, wie man das iPad verwendet, Bilder speichert und Präsentationen erstellt – auf eine spielerische Art. Bei den älteren Schülern geht es dann um Medienkompetenz, Themen wie Hate Speech und Fake News, aber auch um handfeste Themen wie Künstliche Intelligenz.

Wir arbeiten projektbasiert – und es ist wichtig, dass es hierbei nicht nur um digitale Fähigkeiten geht. Zu Beginn unserer Arbeit stand das Thema digitale Bildung im Vordergrund, weil es damals einfach noch keine Angebote gab. Mittlerweile hat sich das glücklicherweise geändert. Es ist klar geworden, dass digitale Fähigkeiten allein nicht ausreichen. Es geht auch um Zusammenarbeit, Kreativität, Kommunikation und kritisches Denken – die sogenannten 21st Century Skills. Diese Fähigkeiten bauen wir ebenfalls ein. Technologie ist kein Selbstzweck; sie muss den Menschen dienen. Das ist das zentrale Ziel unserer Arbeit. Wir gehen immer mehr in die Richtung, dass wir Zukunftskompetenzen vermitteln.

Wie definierst Du gelungene Bildung in der digitalen Welt??

Ich orientiere mich hier gern an der Future-Skills-Pyramide, die zeigt, wie digitale, klassische und technologische Fähigkeiten ineinandergreifen müssen. Es reicht nicht, programmieren zu können, ohne zu verstehen, warum und wozu der Code geschrieben wird. Digitale Skills allein sind nicht genug; immer wichtiger werden Fähigkeiten wie abstraktes Denken oder Anpassungsfähigkeit. Jeden Tag stehen wir vor neuen, komplexen Herausforderungen, auf die wir flexibel reagieren müssen. Agiles Wissen ist gefragt – Wissen, das wir ständig anpassen und anwenden können.
Soft und Hard Skills gehören zusammen – ein Gesamtpaket, das der Komplexität der Welt gerecht wird. Denn es geht nicht mehr nur um das Vermitteln von Inhalten. Der Content ist da – es geht vielmehr darum, wie wir lernen, wie wir denken und wie wir unser Wissen vernetzen und anwenden. Es reicht nicht mehr, dass der Lehrer vorne steht und sagt: “Lernt das auswendig.” Die Welt ist viel zu komplex geworden, um auf Bestandswissen allein zu setzen.

Ihr unterstützt Schulen dabei, diese Skills zu vermitteln. Gleichzeitig betont ihr, dass diese Prozesse eigentlich Teil des regulären Schulsystems sein sollten. Was sind deiner Meinung nach die größten Hemmnisse, die verhindern, dass digitale Bildung flächendeckend ankommt?

Das Hauptproblem liegt in den Strukturen, die sich auf allen Ebenen zeigen – von der untersten Ausführungsebene bis zur politischen Spitze. Das Schulsystem hat den Wandel, der durch die Digitalisierung verursacht wurde, nicht mitgemacht. Diese Transformation passiert so schnell, dass das bestehende System gar nicht hinterherkommen kann. Oft wird der Vergleich zwischen einem Speedboat und einem Tanker herangezogen – und das Schulsystem ist definitiv ein Tanker. Allein die föderale Struktur: In 16 Bundesländern wird jeweils versucht, das gleiche Medienkompetenzprogramm zu entwickeln. Das ist völlig ineffizient, denn digitale Tools funktionieren in Bayern genauso wie in Schleswig-Holstein. Warum muss es da regionale Unterschiede geben?

Zusätzlich geht es um die Schulträger, die einzelnen Kommunen und die Schulen selbst – ein komplexes Geflecht, in dem viel Zeit und Energie verloren geht. Diese Bürokratie erstickt jede innovative Idee. Lehrkräfte, die etwas verändern wollen, müssen es sich erst genehmigen lassen, was oft lange dauert. Schulen bräuchten mehr Freiheit – im Umgang mit Geld, Lehrplänen und Personal. Lasst die Schulen machen! Die Lehrkräfte wissen, was ihre Schüler brauchen. Sie haben die Ideen, sie setzen sich mit Herzblut ein. Warum lässt man sie nicht einfach tun? Stattdessen werden sie in starre Korsetts gezwängt, müssen mit vielen Mängeln umgehen – und da ist es kein Wunder, dass der Beruf irgendwann keinen Spaß mehr macht. Ich sehe, dass sich langsam etwas bewegt, die Not ist groß und die Botschaft ist angekommen. Aber ich wünsche mir mehr Tempo und vor allem mehr Mut. Mehr Mut, etwas Neues zu wagen.

Ihr steht ja in engem Kontakt mit Lehrkräften und seid für viele eine wichtige Anlaufstelle. Kannst du etwas mehr darüber erzählen, welche Angebote ihr speziell für Lehrkräfte habt? Gibt es Themen, die Lehrkräfte häufig an euch herantragen oder die besonders beliebt sind?

Ja, sicher. Wir bieten Lehrkräften eine breite Palette an Unterstützung an, angefangen bei kostenlosen Unterrichtsmaterialien, die von der Grundschule bis zur Sekundarstufe II reichen. Die Materialien sind gut aufbereitet, sodass Lehrkräfte nicht alles neu entwickeln müssen. Wir sind nur eine von vielen Anlaufstellen, denn es gibt viele weitere kostenfreie Angebote.

Zusätzlich bieten wir kostenlose Fortbildungen an, entweder bei uns oder direkt in den Schulen. Besonders beliebt ist unser Programm Digi Schools. Hier begleiten wir eine Schule für ein halbes Jahr mit Fortbildungen, Projekttagen und regelmäßigen Sprechstunden, um ein digitales Projekt umzusetzen. Dabei beraten wir und unterstützen die Lehrkräfte. Was uns auch wichtig ist: Wir vernetzen Schulen miteinander, denn viele Lehrkräfte arbeiten immer noch isoliert und es fehlt an Austausch und Zusammenarbeit.

Unsere Angebote sind generell sehr gefragt, vor allem das Digi Schools-Programm, das schnell ausgebucht ist. Aber auch die Projekttage kommen gut an. Lehrkräfte freuen sich, wenn frischer Wind von außen reinkommt und neue Perspektiven in den Unterricht gebracht werden. Auch für die Schülerinnen und Schüler ist es aufregend, wenn mal jemand anderes vor der Klasse steht und etwas Neues macht. Unsere Projekte sind kreativ und machen viel Spaß. Wir könnten uns wahrscheinlich verzehnfachen und die Nachfrage wäre trotzdem noch riesig.

Wenn ihr mit Partnerschulen über sechs Monate zusammenarbeitet, begegnet ihr sicherlich vielen Hürden während dieser Zeit. Wenn ihr die Schulen nach diesen sechs Monaten verlasst, bleibt dann dennoch ein Erfolgserlebnis? Schafft ihr es, dass die Schulen nachhaltig profitieren, trotz aller Herausforderungen?

Absolut. Besonders die Digi-Schools sind darauf ausgelegt, nachhaltig zu wirken. Es geht nicht um punktuelle Schulungen, sondern darum, den Umgang mit Digitalität auf einem neuen Niveau zu etablieren. Das Feedback, das wir nach Abschlussprojekten bekommen, ist sehr positiv. Man sieht, wie stolz die Schulen und Lehrkräfte auf das sind, was sie in diesen sechs Monaten erreicht haben.

Natürlich gibt es viele Mängel, über die wir sprechen müssen. Studien zeigen, dass Deutschland im internationalen Vergleich in Sachen schulischer Digitalisierung nur im Mittelfeld liegt – teils sogar darunter. Das ist besorgniserregend, aber es gibt auch viele positive Beispiele. Die Schulen und Lehrkräfte, die zu uns kommen, sind die, die wirklich etwas verändern wollen. Sie sind aufgeschlossen gegenüber der digitalen Bildung und setzen sie bewusst im Unterricht ein. Deshalb haben wir viele Erfolgsgeschichten, die uns motivieren.

Leider sehen wir auch: Der Zugang zu digitalen Kompetenzen hängt oft davon ab, wie wohlhabend die Elternschaft ist. Das darf natürlich nicht sein. Aber leider zeigen auch hier viele Studien, dass in Deutschland der Schulerfolg eng mit der sozialen Herkunft verknüpft ist. Das Problem besteht weiterhin. Gleichzeitig sehen wir besonders engagierte Lehrkräfte an Gesamtschulen, Hauptschulen und Förderschulen. Diese Lehrkräfte werden besonders kreativ und geben alles, um den Kindern so viel wie möglich zu ermöglichen. Das sind wirklich schöne Einzelfälle. Aber der Mangel ist in diesen Schulen besonders groß. Oft arbeiten die Lehrkräfte allein, ohne die nötigen Strukturen im Rücken. Sie kämpfen sich durch, weil sie es mit Herzblut tun.

Digitale Skills sind nicht genug; immer wichtiger werden Fähigkeiten wie abstraktes Denken oder Anpassungsfähigkeit.

Güncem Campagna

Wie sieht es bei den benachteiligten Gruppen aus, die nicht mehr im Schulsystem sind, wie zum Beispiel Frauen? Haben sie andere Bedürfnisse, wenn sie an tech & teach herantreten, oder benötigen sie dieselben Grundkompetenzen wie junge Menschen?

Frauen, die zu uns kommen, haben sehr unterschiedliche Hintergründe und Ausgangspunkte. Viele denken nicht daran, sich weiterzubilden oder in technische Berufe einzusteigen, da hohe Hemmschwellen bestehen. Deshalb gehen wir aktiv auf sie zu. Unser Programm Future Women in Tech richtet sich etwa an arbeitslose Frauen mit Migrations- oder Fluchterfahrung. Dabei arbeiten wir eng mit Jobcentern und Migrationsberatungen zusammen. Unsere Angebote sollen Hemmschwellen abbauen, Interesse wecken und berufliche Perspektiven aufzeigen. Wir reagieren flexibel auf unterschiedliche Bedürfnisse – von Frauen mit wenig Ausbildung bis hin zu promovierten Wissenschaftlerinnen – und begleiten sie auf ihrem Weg.

Denkst du, dass diese Form der Lernbegleitung, also eine übergreifende Orientierung und Anleitung bezüglich der Berufsfindung, auch etwas ist, das die Schulen übernehmen sollten? Oder ist das etwas, bei dem Unternehmen wie tech & teach eine zentrale Rolle spielen können?

Das ist definitiv eine Aufgabe der Schulen: Uns gibt es nur, weil die Schulen das aktuell nicht leisten (können). Diese Art der Lernbegleitung und das moderne Lernen gehören eigentlich fest in den Schulalltag integriert. Idealerweise sollten alle Kinder Zugang zu diesem Wissen haben. Ich wünschte, uns müsste es in diesem Bereich gar nicht geben, weil die Schulen diese Aufgabe komplett übernehmen würden.

Ich höre in deinen Worten ganz viel persönliches Engagement und Herzblut. Ob in der Kritik, warum es bildungstechnisch nicht funktioniert, oder in den Erfolgserlebnissen – es ist klar, dass dich das Thema antreibt. Was genau motiviert dich, trotz der oft widrigen Umstände, weiterzumachen?

Ja, es ist manchmal wirklich anstrengend, aber ich glaube fest daran, dass Bildung der Schlüssel zu einem besseren Leben und einer besseren Gesellschaft ist. Das treibt mich an. Die digitale Welt bietet so viele Möglichkeiten: Mit einem Laptop und Internet kann heute jeder Mensch die Welt verändern – durch neue Ideen, Innovationen, Code, was auch immer. Früher brauchte man Maschinen, ein Studium, Bücher, man musste jahrelang forschen. Heute gibt es kostenlosen Zugang zu Bildungsinhalten im Internet. Das bedeutet, jeder kann sich Wissen aneignen und sich aus seiner sozialen Schicht herausarbeiten. Zukunftskompetenzen ermöglichen es, aus einem langweiligen Job auszubrechen, die Welt zu verändern und für mehr Gerechtigkeit und Gleichheit zu sorgen. Das ist es, was mich antreibt: Gerechtigkeit und Gleichheit, auf gesellschaftlicher und globaler Ebene.

Über die Vodafone Stiftung Deutschland 

Die digitale Welt aktiv zu gestalten, erfordert neue Kompetenzen. Wir müssen neue Technologien verstehen, Veränderungen kritisch hinterfragen und gemeinsam kreative Lösungen für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts schaffen. Deshalb denkt die Vodafone Stiftung Bildung für die digitale Gesellschaft neu. Gemeinsam mit Vorreiter:innen aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft forschen wir, engagieren uns in gesellschaftspolitischen Debatten und entwickeln innovative Bildungsangebote. www.vodafone-stiftung.de 

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