15. September 2021

„Ich wünsche mir, dass jede Lehrperson Demokratiebildung als ihren Bildungsauftrag versteht“

Im Interview mit Christine Achenbach-Carret, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Trier

Christine Achenbach-Carret forscht an der Universität Trier im Bereich Demokratiebildung in der digitalisierten Gesellschaft. Wie Demokratie an deutschen Schulen implementiert werden könnte und welche Herausforderungen sich daraus für Schulen ergeben, beschreibt die Sozialpädagogin in diesem Gespräch.

Wie stellt sich eine demokratische Schule dar?

Demokratie wird hier als Lebensgefühl spürbar. Alle Schüler:innen und Lehrkräfte fühlen sich, unabhängig von Religion, Herkunft, Hautfarbe oder anderen Kriterien an der Schule wohl und wertgeschätzt und können mitsprechen und mitentscheiden. Wie die Schulmitglieder inkludiert werden, ist in der Schulstruktur verankert. Auch der Unterrichtsstil ist ein anderer. Die Lehrer:innen werden zu Lernbegleiter:innen. Sie geben nicht nur Fachwissen weiter. Ihr Auftrag ist es, Selbstwirksamkeit zu vermitteln, also den Glauben an sich selbst und seine Fähigkeiten und die Überzeugung, auch herausfordernde Situationen gut meistern zu können. Tabuthemen existieren nicht. Vielmehr werden brisante Themen und auch Sujets, die in der Welt der jungen Menschen eine wichtige Rolle spielen, kontrovers, aber respektvoll miteinander diskutiert.

Welche Strukturen müssen für eine demokratische Schule geschaffen werden?

Schüler:innen sollen bereits in der Schule darauf vorbereitet werden, für sich und andere Verantwortung zu übernehmen. Das kann zum Beispiel die Gründung eines Schul- bzw. Klassenrats, oder eines Anti-Rassismus-Projekts sein. Die Schule und die Lehrkräfte müssen Schüler: innen ganz eindeutig begleitende Maßnahmen anbieten. Zusätzlich müssen sich Demokratiebildung und die Bearbeitung der damit verbundenen Herausforderungen in jedem schulischen Handlungsfeld wiederfinden. Die Schule darf auch vor drängenden Fragen wie institutionellem Rassismus nicht die Augen verschließen. Diskriminierungskritische Schulentwicklung ist ein wichtiger Aspekt, um demokratiepädagogische Schulentwicklung zu ermöglichen.

STATEMENT

„Demokratie wird (…) als Lebensgefühl spürbar. Alle Schüler:innen und Lehrkräfte fühlen sich, unabhängig von Religion, Herkunft, Hautfarbe oder anderen Kriterien an der Schule wohl und wertgeschätzt und können mitsprechen und mitentscheiden.“

Christine Achenbach-Carret
wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Trier

Welche Herausforderungen ergeben sich daraus für die Schulen?

Grundsätzlich sind die Schulen häufig überfordert. Sie müssen ihr ‚Tagesgeschäft‘ am Laufen halten, prall gefüllte Lehrpläne abarbeiten und sollen sich auch den Querschnittsthemen und Herausforderungen wie z.B. Chancenungerechtigkeit, Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, Radikalisierung und den Folgen der Digitalisierung widmen. Dies bedeutet, dass Lehrkräfte kritisch auf die eigene Arbeit blicken und Schulen auch interne Abläufe kritisch hinterfragen und diese immer wieder an neue Herausforderungen anpassen müssen. Oft wenig Zeit für systemische Neuerungen. Hilfreich sind externe Begleiter wie Vereine, Verbände, Stiftungen oder Unternehmen aus der Privatwirtschaft, die auf längere Sicht als Partner fungieren und sich gemeinsam mit den Schulen auf den Weg machen, zu analysieren, wo die Schule steht, wie das Schulklima verändert werden könnte, was wichtig und hilfreich wäre oder wo Synergien entstehen könnten. Nur einen Demokratietag, losgelöst von Schulentwicklungsprozessen, vor den Ferien durchzuführen, ist zu kurz gedacht. Vielmehr sollten die Ziele in kleinen Schritten umgesetzt werden, so dass am Ende eine Handlungskette entsteht. Wichtig dabei ist, dass alle Schulmitglieder von Anfang an in diese Prozesse eingebunden werden.

Wie demokratisch schätzen Sie die deutschen Schulen ein?

Ich kann natürlich nicht für alle Bundesländer sprechen, aber mein Eindruck ist, dass sich diesbezüglich schon viel getan hat. Allein durch die Kultusministerkonferenz hat Demokratiebildung eine Aufwertung erhalten. Viele Schulen nutzen bereits Klassenräte oder Audits, deren Arbeiten über eine Basisebene hinausgehen und die sich stetig weiterentwickeln können. Wie schon erwähnt, müssen dafür auch die Lehrkräfte Input und Engagement einbringen. Ich habe zum Beispiel eine Schule fünf Jahre lang begleitet, bei der in einem Audit-Prozess die Leitlinien der Schule durch eine gemeinsame Gruppe aus Lehrkräften und Schüler:innen überarbeitet wurden. Die Einführungsworkshops für den Klassenrat fanden aus Teams von Lehrkräften und Schüler:innen statt und am Ende ist der Klassenrat fest im Stundenplan verankert. Für solche Neuerungen braucht man viel Zeit und Geduld.

Welchen Einfluss hat eine demokratische Schule auf das Verhältnis von Lehrkräften und Schüler:innen?

Nach meiner Erfahrung bedeutet es den Schüler:innen sehr viel, wenn sie gemeinsam mit den Lehrer:innen Projekte umsetzen oder neuen Input bekommen können. Lehrkräfte fungieren als Lernbegleiter:innen und begegnen den Schüler:innen auf Augenhöhe.  Die Schüler:innen fühlen sich gesehen, wollen Verantwortung übernehmen, sind zufrieden und motiviert statt passiv oder aggressiv. Das trägt zu einer besseren Atmosphäre im Schulbetrieb bei, stärkt die Selbstwirksamkeit und entlastet am Ende die Lehrer:innen, weil gleichzeitig die Lust am Lernen steigt.

STATEMENT

„Schüler:innen sollen bereits in der Schule darauf vorbereitet werden, für sich und andere Verantwortung zu übernehmen.“

Christine Achenbach-Carret
wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Trier

Wie kann man das Thema Demokratie in Schule und Unterricht verankern?

Hierzu bin ich ambivalent. Demokratie als Fach wie Mathematik oder Deutsch einzuführen, halte ich nicht für erstrebenswert. Vielmehr wünsche ich mir, dass jede Lehrperson Demokratiebildung als ihren Bildungsauftrag versteht und im eigenen Unterricht umsetzt. Dafür bräuchten die Lehrer:innen Ermäßigungsstunden.

Welche Voraussetzungen müssen Lehrkräfte mitbringen, um demokratisches Miteinander an der Schule zu gestalten?

Lehrkräfte sollten mit kontroversen Themen sachlich umgehen können. Sie müssen Konflikt- und Reflektionskompetenzen besitzen und über Grundrechtsklarheit sowie ein politisches Grundwissen verfügen. Das bedeutet nicht, dass sie auf allen Gebieten Expert:innen sein sollen. Gemeinsam mit den Schüler:innen können sie Projektfelder selbstwirksam erarbeiten, statt verunsichert zu sein. Von einer Kommunikationskompetenz bis hin zum sicheren Auftreten bei Konfliktsituationen, all diese Skills sollten Teil der Lehrerausbildung sein.

Wie kann Digitalisierung helfen, mehr Demokratie an Schulen einzuführen?

Ein digitaler Raum wie aula kann sehr hilfreich sein, weil hier die Hürden weitaus geringer sind. Man muss nicht erst zum Schwarzen Brett laufen, um auf eine Problematik aufmerksam zu machen, sondern stellt es online. Auch Projekte können online besser gesammelt oder verbreitet werden. Wichtig bei allen Prozessen ist, dass die Schüler:innen durch die Schule beziehungsweise Lehrkräfte begleitet werden.

Wie hätte sich die Corona-Situation an Schulen gestaltet, wenn es mehr demokratische Mitbestimmung gegeben hätte?

Ich denke, die Frage sollte auf den Digitalisierungsprozess abzielen. Ich habe eine Umfrage gemacht und erfahren, dass Schüler:innen von Schulen, an denen bereits vor der Pandemie

mit digitalen Werkzeugen oder Videokonferenzen gearbeitet wurde, es weitaus einfacher  hatten, sich an den Distanzunterricht zu gewöhnen. Ich hoffe, dass die Schulen daraus gelernt haben, wie hilfreich die Digitalisierung sein kann. Hinsichtlich der Mitbestimmung und Demokratiebildung hat die Pandemie eher einen Rückschritt bedeutet, wenn ich dabei an Sitzordnungen und die Abstandsregelungen denke. Allerdings wundert es mich, dass die Schüler:innen ihr Mitbestimmungsrecht in dieser Zeit auch gar nicht eingefordert haben. In dieser Zeit waren einfach alle überfordert, bessere Lösungen für damit verbundene Herausforderungen finden können.

Fotonachweise
Linkes Bild: Maria Panzer
Rechtes Bild: Thomas Clemens

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