„Viele Menschen sind in ihrer eigenen Perspektive so gefangen, dass sie es nicht mehr ertragen können, wenn andere anders denken“
Ist es ein Unterschied, ob eine Debatte offline oder online geführt wird?
Ja, auf jeden Fall. Bei einer Debatte unter Anwesenden besteht eine Einheit von Ort, Zeit und Personen. Bei einer Online-Debatte dagegen können die beteiligten Personen über die Welt verteilt sein. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass man bei einer Debatte unter physisch Anwesenden leichter erkennen kann, was das Gesagte bewirkt. Sich wirklich in die Augen schauen zu können, ist eine wichtige zivilisierende Möglichkeit.
Wie sollten junge Menschen auf Fake News, Hassreden und Beleidigungen im Netz reagieren?
Sie sollten nicht alles glauben, nicht alles sofort teilen, immer wieder hinterfragen und nicht auf jede Provokation anspringen. Am besten: Sachlich bleiben und den direkten Kontakt suchen. Ein Großteil der Hass- und Hetzäußerungen im Netz dürfte allerdings von Älteren stammen, die ihren Frust und ihre Unzufriedenheit mit ihrem Leben auf diese Weise abreagieren. Junge Menschen haben naturgemäß mehr Zuversicht und Zutrauen, dass sich für sie etwas zum Besseren wenden kann.
Oft wird von einer Verrohung des Dialogs gesprochen. Können Sie dies bestätigen?
Eine anonymisierte oder anderweitig technisch abstrahierte Kommunikation kann zur Enthemmung und damit zur Verrohung führen. Im Netz fehlt die soziale Kontrolle, die man empfindet, wenn man in einer Gruppe anwesend ist. Die Tatsache, dass man in der elektronischen Kommunikation Menschen auf Knopfdruck herbeirufen und sich wieder von ihnen trennen kann, gibt den eigenen Launen eine unglaubliche Macht. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Umgangsformen sich vergröbern und Gespür und Takt in den Hintergrund treten. Daher können Beleidigungen und mobbingähnliche Intrigen auch schon bei 12-Jährigen an der Tagesordnung sein. Zudem sind viele Menschen in ihrer eigenen Perspektive so gefangen, dass sie es nicht mehr ertragen können, wenn andere anders denken, und dann mit großer Empörung reagieren.
Welchen Stellenwert nimmt die Schule auf den Umgang mit der bestehenden digitalen Debattenkultur ein?
Mehr noch als die Kita ist die Schule die erste Zone der Öffentlichkeit, die ein Kind außerhalb seiner Familie betritt und ein Ort, wo junge Menschen lernen, wie man ein Gespräch sachbezogen führt und seriöse Quellen findet. Durch die Ausbreitung der digitalen sozialen Medien ist aktuell sehr viel im Wandel. Inzwischen gibt es viele Lehrkräfte, die auch mit den neuen Kommunikationsverhältnissen sehr vertraut sind, wobei die Pandemie hier noch einen weiteren Schub gebracht hat. Die Vodafone-Studie „Jugend in der Infodemie“ hat im letzten Jahr dargelegt, wie sehr auch Jugendliche wünschen, in der Schule mehr auf die digitale Kommunikationswelt vorzubereitet zu werden und kritische Medienkompetenz zu erwerben.
Welche wichtigen Kenntnisse vermitteln Sie mit der Bildungsinitiative Jugend debattiert?
Die Schüler lernen, wie sie sich selbst an Debatten und öffentlichen Gesprächen konstruktiv beteiligen können. Sie lernen zuzuhören, auf den Punkt zu kommen und wie man agiert, damit das persönliche Anliegen Gehör findet. Sie lernen auch, Argumente in einer schriftlichen Erörterung abzuwägen. Im Wettbewerb lernt man, Leistung nach bestimmten Regeln zu erbringen, fair zu bleiben und mit Überzeugungskraft öffentlich zu sprechen. Die Debatte von Angesicht zu Angesicht dient zugleich als Maßstab für Debatten im Netz.
Wie hat sich Ihr Bundeswettbewerb Jugend debattiert in den letzten 20 Jahren entwickelt und welche Erfahrungen haben Sie gesammelt?
Es ist uns gelungen, das Debattieren mehr und mehr in der Schule zu etablieren, ja, zur Bürgerkompetenz zu machen, auch an Schulen, die keine Gymnasien sind. In meiner Jugend hieß es selbstverständlich, Debatte macht die Politik oder der Anwalt vor Gericht. Wir haben aber nicht gesehen, dass jeder debattieren lernen kann. Dabei ist es in einer Zeit, wo die Informationsflut ständig steigt und jeder kommunikativ ein Sender sein kann, ungemein wichtig, Durchblick und Urteilsvermögen zu behalten. Gleichzeitig zu erkennen, dass man den Austausch mit anderen benötigt, um bei Verstand zu bleiben, das ist durch Jugend debattiert hoffentlich vorangebracht worden. In über 30 Ländern wird an Partnerschulen des Auswärtigen Amtes auch in deutscher Sprache debattiert.
Wie hat sich die Debattenkultur durch die Corona-Pandemie verändert?
Bei unseren Debatten, die inzwischen ganz selbstverständlich per Videokonferenz geführt werden, stellen wir fest, dass sie erstaunlich gut funktionieren – wenn sich die Teilnehmenden auch selbst darum bemühen, geordnet und strukturiert zu sprechen. Aber wo es schwieriger ist, die Gefühle im Zaum zu halten oder sich verständlich zu machen, gerät man schnell an Grenzen. Die Pandemie führt auch zu Spaltungen, sogar in den engsten familiären- oder Freundeskreisen. Hier ist es hilfreich, wenn man durch das regelgeleitete Debattieren bereits die Erfahrung gemacht hat, dass man auch im Gegensatz zusammenbleiben kann. Es kommt darauf an, bei schwierigen Themen zumindest zu einem „produktiven Nichteinverständnis“ zu finden, wie es der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen sagt. Es ist wichtig, dass wir immer wieder Anknüpfungspunkte finden, um weiter im Gespräch zu bleiben.
Über Jugend debattiert
Jugend debattiert ist ein Programm auf Initiative und unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten. Partner:innen sind die Gemeinnützige Hertie-Stiftung, die Heinz Nixdorf Stiftung, die Kultusministerkonferenz, die Kultusministerien und die Parlamente der Länder. Jugend debattiert wird gefördert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung. www.jugend-debattiert.de
Fotonachweise
Jugend debattiert-Szenen: Hertie-Stiftung/Studio Lemrich
Portraits Ansgar Kemmann: Hertie-Stiftung/Dominik Buschardt