5. März 2021

Etwas anarchischer, freier, ungewohnter

Ein Gespräch mit Prof. Dr. Birgit Eickelmann, Inhaberin des Lehrstuhls für Schulpädagogik an der Universität Paderborn

Schulen benötigen digitale Kompetenz und sollen sie zugleich vermitteln. Im Jahr 2020 begann dann für alle Schulen der große Belastungstest: die COVID-19-Pandemie. Was hat sie gelehrt?

Während der Krise zeigten sich zwei Phänomene, die uns zwar schon vorher aufgefallen waren, die wir aber nicht wirklich vollständig erfasst hatten: Zum einen sind insgesamt die Digitalisierungsprozesse an Deutschlands Schulen nicht besonders fortgeschritten. Zwar gibt es viel Forschung und großes Engagement, aber das hat nicht dazu geführt, dass wir während der Pandemie in der Fläche ausreichend auf das Distanzlernen umschalten konnten. Für Fernunterricht lagen an den Schulen sehr unterschiedliche Voraussetzungen vor, und zwar nicht bloß technische. Wir mussten erkennen, dass die erforderlichen Rahmenbedingungen nicht an allen Schulen gegeben waren und dass die digitale Fähigkeit sowie die Kompetenz, selbstverantwortlich zu lernen, sehr unterschiedlich verteilt waren. Diese übergeordnete Kompetenz ist zwar eigentlich ein Bildungsziel, schien aber in der Breite wirklich nicht so umgesetzt gewesen zu sein. Das zweite Phänomen, auf das wir in der Pandemiezeit noch einmal gestoßen sind, bestand in den großen Bildungsungleichheiten in Deutschland. Zwar wissen wir spätestens seit den internationalen Leistungsstudien und insbesondere seit dem sogenannten PISA-Schock, dass das deutsche Bildungssystem soziale Disparitäten verstärkt. Dass es also eine enge Kopplung zwischen dem Geldbeutel der Eltern und dem Bildungserfolg der Kinder und Jugendlichen gibt. Aber wir wussten scheinbar nicht so richtig, wie sich das in der Praxis niederschlägt. Jetzt mussten wir beispielsweise feststellen, dass viele Kinder und Jugendliche keinen Zugriff auf ein geeignetes Endgerät zum Lernen hatten oder dass zu Hause kein WLAN vorhanden war oder kein ausreichendes Datenvolumen zur Verfügung stand.

Sie sprechen vom „Lernen auf Distanz“. Steckt in dem Begriff auch eine gewisse Ambivalenz?

Ja. Eine repräsentative Studie, die wir zu Anfang der Pandemiezeit mit der Vodafone Stiftung Deutschland durchgeführt haben, heißt „Schule auf Distanz“. Sie untersucht vor allem die Zeit der Schulschließung und die damit verbundene Reorganisation des Lernens. Neu war in dieser Zeit vor allem, dass sich Lehrende und Lernende an unterschiedlichen Orten befanden. Das hatte Konsequenzen für die Begleitung von Lernprozessen, ging aber auch darüber hinaus. Wichtiger wurde – trotz der Einschränkungen – die Beziehungsarbeit. Da zählte beispielsweise jeder Anruf der Lehrerin zu Hause.

Das Lernerlebnis in der Schule ist auch ein emotionaler Vorgang und die körperliche Distanz führt zu einem Verlust an Emotion. Das gilt auch für das Verhältnis der Kinder und Jugendlichen untereinander. Ich habe im Fernsehen Kinder gesehen, die nach einer Schulöffnung freudestrahlend sagten: „Endlich können wir wieder zur Schule gehen.“

Ich habe zur gleichen Zeit an einer anderen Publikation mitgearbeitet, die den schönen Titel trug „Langsam vermisse ich die Schule“ und die genau das zeigt. In Deutschland wurde die schulische Arbeit ja oft geringgeschätzt, aber in der Krise haben dann alle gesehen, dass sie einen hohen Wert hat. Die Schule ist nicht nur ein Ort des Lernens, sondern auch ein besonderer Sozialisationsort. Sie können dieses Phänomen schon während der Einschulungstage beobachten: Die Eltern dürfen nicht mit hinein, manchen fällt das richtig schwer, sie stehen vor den Fenstern der Klassenräume und hüpfen, um einen Blick ins Innere des Schulgebäudes zu ergattern. Ein echter Bruch. Von da an findet die Sozialisation auch außerhalb der Familie statt, die Kinder haben die Chance, gemeinsam erwachsen zu werden. Wenn diese Chance während der Corona-Krise beeinträchtigt wird, ist das schwerwiegend, denn die Kinder und Jugendlichen sind ja die Zukunft der Gesellschaft.

STATEMENT

„Es ist doch verrückt, dass wir mancherorts immer noch darüber diskutieren, ob Grundschulen bildschirmfreie Räume sein sollten. Stattdessen könnten die Kinder dort lernen, mit den ihnen so geläufigen Medien reflektiert und kreativ umzugehen.“

Prof. Dr. Birgit Eickelmann
Inhaberin des Lehrstuhls für Schulpädagogik an der Universität Paderborn

Eine weitere Studie, die Sie mit der Vodafone-Stiftung veröffentlicht haben, trägt den Titel „Digitales Potenzial“.

In dieser Studie wollten wir zeigen, dass es Schulen gibt, die erfolgreich Digitalisierungsprozesse gestalten und alle Schülerinnen und Schüler bestmöglich fördern. Die Idee ist, diese Schulen zu beschreiben, damit man von ihnen lernen kann.

Der Untertitel besagt, dass sich die Studie auf „nicht-gymnasiale Schulen der Sekundarstufe I“ konzentriert. Warum ist das so?

Wir haben in der ICILS-2018-Studie (International Computer and Information Literacy Study) gesehen, dass im Mittel vor allem Schülerinnen und Schüler an nicht-gymnasialen Schulen großenteils über nur sehr geringe digitale Kompetenzen verfügen. Aber es gibt eben auch nicht-gymnasiale Schulen, die das Muster durchbrechen. Das hat wissenschaftliche und gesellschaftliche Relevanz, weil wir in Deutschland tendenziell einen sehr gymnasialen, also verengten Blick auf schulische Digitalisierungsprozesse haben.

Liegt es daran, dass diejenigen, die über Schulbildung sprechen und schreiben, selbst in den Gymnasien sozialisiert wurden?

Zumindest gibt es da eine Habitusnähe, die es erforderlich macht, dass sich die Forschenden wirklich in die Situationen verschiedener Schulformen hineindenken. Die deutsche Diskussion um die Digitalisierung in den Schulen weist aber noch einen weiteren blinden Fleck auf: Es wird meist nur über die Technik gesprochen. Doch Ausstattungsprogramme allein genügen nicht. Die Technik muss so eingesetzt werden, dass die Lehrkräfte sie als Unterstützung verstehen. Das ist im Übrigen auch eine Frage der Fortbildung. Hier haben wir mit der Studie „Digitales Potenzial“ festgestellt, dass sich fachliche Fortbildungen als geeigneter Ort anbieten. Sie sollten die Frage thematisieren, wie setze ich digitale Medien kompetenzförderlich und motivierend ein, in Mathematik, Deutsch, Physik, Englisch, Sport und so weiter. Das müssen Lehrkräfte lernen.

Was geschieht in den von Ihnen hervorgehobenen Schulen, die mit Erfolg digitale Kompetenz vermitteln?

Diese Schulen verfolgen auf der Unterrichtsebene im Kern drei Ansätze. Erstens einen schülerorientierten Einsatz digitaler Medien. Zweitens lernen Schülerinnen und Schüler, mit diesen Medien selbst Inhalte zu präsentieren. Und drittens lernen sie den Umgang mit bestimmten, besonders wichtigen Formen von Software, beispielsweise mit Textverarbeitung. Das ist keineswegs selbstverständlich in sämtlichen Schulformen, ja wir sehen sogar bei Studierenden, dass ihnen zuweilen diese grundlegenden Kompetenzen fehlen.

Was verstehen Sie unter „schülerorientiertem Einsatz“?

Die individuelle Förderung von Schülerinnen und Schülern oder von Lerngruppen. Kinder und Jugendliche müssen ermuntert werden, zu Konstrukteuren ihrer eigenen Lernprozesse zu werden. Die Digitaltechnik soll also nicht dem Eintrichtern des Stoffs dienen, sondern der selbstständigen Produktion sinnvollen Wissens. Kinder und Jugendliche bringen oft schon das Potenzial dafür aus ihrem alltäglichen Umgang mit digitalen Medien mit. Dies gilt es zu fördern. Wir sprachen eben darüber, dass während des Fernlernens die sozialen Kontakte eingeschränkt waren – das stimmt auch, aber es ist nicht so, dass die Schülerinnen und Schüler keinen Kontakt zueinander hatten. Während wir Erwachsenen uns mühevoll an Tage voller Videokonferenzen gewöhnen mussten, sind solche oder ähnliche Technologien für viele der jungen Menschen Alltag. Natürlich auch in Deutschland. Nur, dass dieses Potenzial hierzulande kaum für das Lernen genutzt wird. In anderen Ländern ist es beispielsweise längst gang und gäbe, über Lernplattformen im Internet zusammenzuarbeiten und auch Schulexterne einzubeziehen, also über die Grenzen der eigenen Schule hinauszureichen.

STATEMENT

„Es gab an solchen Schulen einen richtigen Innovationsschub, weil sie die hergebrachten Strukturen ignorieren durften und man neu denken konnte.“

Prof. Dr. Birgit Eickelmann
Inhaberin des Lehrstuhls für Schulpädagogik an der Universität Paderborn

Hatte nicht schon der Mathematiker und Pädagoge Seymour Papert vom amerikanischen MIT vor 50 Jahren gefordert, Kinder und Jugendliche sollten Autorinnen und Autoren ihres Lernens werden und dafür die digitale Technik nutzen? Er hatte sogar eine eigene Programmiersprache für Kinder geschrieben.

Papert verwendete für seine Lerntheorie den Begriff des Konstruktionismus: aktives Konstruieren als Lernmethode. In Österreich und in der Schweiz finden Sie auch den Begriff „computational thinking“ in den Lehrplänen wieder: Die Schule soll Modellierung und Algorithmisierung als Kompetenzen vermitteln. Und sie soll den kritischen Umgang mit diesen Konzepten möglich machen. Auf diesen Gebieten geschieht in Deutschland bisher noch viel zu wenig. Wir lesen überall, dass künstliche Intelligenz mehr und mehr unser Leben bestimme und dass man deren ethische Aspekte diskutieren müsse – aber wie soll das die zukünftige Generation tun, wenn sie davon nichts versteht? Das sind die großen neuen Bildungsthemen. Sie gehören auch in die Schulen. Und das geschieht nicht dadurch, dass wir nur Endgeräte zur Verfügung stellen.

Was sind die Hindernisse?

Es fehlt an digitalen Lerninhalten. Aber man muss sicherlich auch die Strukturen überdenken. Auch das ist eine Erfahrung der Krise. Während der Schulschließungen war das hergebrachte Regelwerk zum Teil außer Kraft, es fehlte an Konzepten. Also wurden Lehrkräfte produktiv und kreativ, dachten sich selbst etwas aus. Auf einmal war die Schule ein Erprobungsraum für schulische Innovationen.

Können Sie mir Beispiele nennen?

Es gibt viele Beispiele, die man eigentlich sammeln und sichern müsste. In einer Schule konnten beispielsweise die Lehrkräfte ihre Schülerinnen und Schüler, die vor dem Abitur standen, nicht mehr wie geplant erreichen und schlugen ihnen daher ein digitales Barcamp zur Prüfungsvorbereitung vor. Die Jugendlichen tauschten sich aus und unterstützten sich gegenseitig, und wenn Frage auftauchten, wandten sie sich an die Lehrkräfte. Das hat funktioniert und ein Fazit war: „Das wär ja auch mal was ohne Corona.“ Es gab an solchen Schulen einen richtigen Innovationsschub, weil sie die hergebrachten Strukturen ignorieren durften und man neu denken konnte. So etwas setzt Kräfte frei. Setzt aber auch viel Vertrauen voraus, in die Schulen, in die Lehrkräfte und in die Lernenden.

Das ist aber wieder ein gymnasiales Beispiel. Wie wollen Sie verhindern, dass das, was Sie propagieren, bloß ein Mittelschichts- oder gar Elitenprogramm ist?

Wir müssen uns von der Vorstellung lösen, dass digital gestütztes Lernen nur ein Zusatz zum Lesen, Schreiben und Rechnen ist. Als wenn die Kinder nicht schon längst mit digitalen Medien aufwachsen würden. Die Schule darf die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse nicht ignorieren. Sie muss befähigen, diese zu gestalten. Es ist doch verrückt, dass wir mancherorts immer noch darüber diskutieren, ob Grundschulen bildschirmfreie Räume sein sollten. Stattdessen könnten die Kinder dort lernen, mit den ihnen so geläufigen Medien reflektiert und kreativ umzugehen.

Wurde denn die Bildungsungleichheit durch die Pandemie vergrößert?

Die allgemeine Wahrnehmung und die Expert:innenmeinung geht klar in diese Richtung. Wir haben dazu allerdings noch keine Evidenz, da müssen wir auf die Ergebnisse der Schulleistungsstudien warten. Ich wage mal eine These: Vielleicht ist uns die herrschende Ungleichheit wegen der Pandemie nur stärker aufgefallen. Etwa, dass manche Schüler zu Hause gar keinen Arbeitsplatz haben oder kein digitales Lerngerät.

Oder keinen Ansprechpartner.

Eine typisch deutsche Sichtweise. Die bildungsnahen Eltern konnten zu Hause so etwas wie einen Schulersatz bieten, andere konnten es nicht. Daher kam die Forderung auf, die Eltern einzubeziehen – doch da möchte ich auf erfolgreichere Bildungssysteme wie diejenigen in Kanada oder Skandinavien verweisen. Dort denkt man von jeher anders und fragt nun beispielsweise, was die Schule während einer solchen Pandemie für die Schüler tun kann. Beispielsweise Study Halls einrichten, mit Einzeltischen unter hygienisch sinnvollen Bedingungen. Das haben auch Schulen in Deutschland gemacht, um nicht diejenigen Kinder und Jugendlichen zu benachteiligen, die zu Hause keine Unterstützung bekommen.

Nicht alles durch das Nadelöhr des Elternhauses pressen, meinen Sie das?

Ja, das ist ein häufiger Fehlschluss in Deutschland. Das überfordert einfach zu viele Eltern, wie die Krise uns zeigte. Uns muss zukünftig endlich besser gelingen, Bildungserfolg unabhängiger von den familiär bedingten Chancen zu machen.

Jugendliche sind zum Beispiel auf Plattformen für Rollenspiele unterwegs. Könnten diese virtuellen Räume nicht auch Klassenzimmer sein?

In einigen asiatischen Ländern wird dieser Ansatz schon seit Langem erfolgreich für das Lernen genutzt. Aber die meisten Lehrkräfte kennen sich in dieser Welt nicht aus.

Sie könnten sie sich von ihren Schülerinnen und Schülern erklären lassen.

Ja, in der Schule das Lernen auf Augenhöhe zu gestalten, ist ein zukunftsweisender Ansatz. Während der Schulschließungen haben die Jugendlichen beispielsweise Videokonferenzen aufgesetzt und den Lehrkräften gezeigt, wie es geht. Lehrkräfte müssen zukünftig eben auch außerhalb bisheriger Strukturen lernen. Besonders wirksam ist das gemeinsame, kooperative professionelle Lernen. Diese Corona-Zeit ist schon interessant und wir könnten daraus viel lernen, wenn wir wollten. Etwas anarchischer, etwas freier, etwas ungewohnter.

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