28. Oktober 2021

„Schülerinnen und Schüler sind es nicht gewohnt, verantwortlich für ihr eigenes Lernen zu sein.“

Im Interview mit FREI DAY

Aus recycelten Materialien Möbel für den Schulhof basteln, einen veganen Ernährungs-Blog schreiben oder einen Schulwald mit 1.000 Bäumen anpflanzen – Tobias Feitkenhauer, Projektleiter von FREI DAY, ist davon überzeugt, dass der Lehrplan an Deutschlands Schulen nicht ausreicht, um Kinder und Jugendliche adäquat auf die Zukunft vorzubereiten.

FREI DAY, ein Lernformat der Initiative Schule im Aufbruch, fördert die zentralen Zukunftskompetenzen von Kindern und Jugendlichen. Durch die Beschäftigung mit aktuellen sozialen, ökonomischen und ökologischen Themen lernen sie, die Gesellschaft von morgen selbst zu gestalten.

Wir haben mit Tobias gesprochen – über ein Bildungssystem nach Corona, Schulnoten und Themen, die Schüler:innen bewegen.

Durch die Corona-Pandemie wurde das bisherige Lernsystem an Deutschlands Schulen auf den Kopf gestellt. Welche Schwachstellen kamen dabei zum Vorschein?                                                                  

Die größte Schwäche, die wir an vielen Schulen gesehen haben, ist die fehlende Fähigkeit der Schülerinnen und Schüler, selbstverantwortlich zu handeln. Die Kinder und Jugendlichen haben in vielen Schulen nicht den notwendigen Raum, diese Fähigkeit zu entwickeln. Das Schulsystem ist darauf ausgerichtet, dass der Stoff vorgegeben und reproduziert wird. Die Schülerinnen und Schüler sind es nicht gewohnt, die Dinge in die Hand zu nehmen und verantwortlich für ihr eigenes Lernen zu sein.

Die Pandemie hat ebenfalls aufgezeigt, dass viele Schulen in Sachen Digitalisierung Nachholbedarf haben. Woran liegt das?                                                                                                                                      

Die Digitalisierung ist als großes Thema in den letzten Jahren in den Fokus gerückt. Viele Schulen führen zwar digitale Medien und Tools ein, aber sie versäumen es, die digitalen Medien mit konkreten Aufgaben zu verbinden. Es genügt nicht, ein altes Schulsystem zu digitalisieren. Damit die Digitalisierung funktioniert, muss ihre Anwendung für die Schüler:innen mit Sinn verknüpft werden und immer im Kontext der Gesellschaft gesehen werden.

STATEMENT

„Im Projekt erfahren die Schüler:innen, dass sie etwas bewegen können, wenn sie etwas dafür tun. Die Kinder und Jugendlichen können sich frei entwickeln und lernen, in einem Team an einem Thema zu arbeiten, das sie begeistert! Oft erwerben sie zusätzlich wichtige Kompetenzen im Umgang mit digitalen Medien.“

Tobias Feitkenhauer
Projektleiter von FREI DAY

Wie stellen Sie sich eine ideale Schule vor?

Die ideale Schule zeichnet sich dadurch aus, dass es Freiräume für Kinder und Jugendliche gibt, die Dinge zu lernen, die sie wirklich interessieren. Und dass sie ins Handeln kommen. In der idealen Schule hätten sie die Möglichkeit, das Wissen, das sie zu bestimmten Themen erwerben, auch direkt in konkreten Projekten praktisch umzusetzen. Der zweite Aspekt wäre Partizipation auf allen Ebenen. Kinder und Jugendliche sind aktiv in die Gestaltung ihrer Schule mit eingebunden. Das ist zwar in der Theorie in den Schulgesetzen verankert, aber es scheitert oft in der Praxis. Außerdem ist es wichtig, Freiräume für das Kollegium zu schaffen. Wenn man Schule als einen lebendigen Organismus begreift, der sich ständig weiterentwickelt, sollte es auch für die Lehrerinnen und Lehrer möglich sein, sich mit Schulentwicklung zu beschäftigen. Auch regelmäßige Hospitationen an Schulen, die neue Lernkonzepte umsetzen, sollte gefördert werden.

Was müsste von Seiten der Politik getan werden, um Schule neu zu denken?

Ich vermisse die deutliche Positionierung der Politik, dass sie Veränderungsbemühungen unterstützt. Das Schulsystem ist extrem hierarchisch aufgebaut, sodass trotz Gestaltungsfreiräumen nach oben geschaut wird. Wenn die Bildungsminister:innen kein klares Signal senden, dass Veränderungen gewünscht und unterstützt werden, dann werden sich keine neuen Dinge entwickeln können.

Der Stundenplan der Schüler:innen ist randvoll. Warum brauchen Kinder und Jugendliche Freiräume?

Die größte Herausforderung, die wir als Gesellschaft haben, ist es eine nachhaltige, ökologische Gesellschaft zu gestalten. Damit unsere Kinder und Kindeskinder auf dieser Welt leben können, müssen wir lernen, ökologisch und im Einklang mit der Natur zu handeln und zu fühlen. Der einzige Ort, an dem Kinder und Jugendliche das lernen können ist – unabhängig vom Elternhaus – die Schule. Es braucht neue Formate wie den FREI DAY, die in Frage stellen, wie bisher unterrichtet wurde und gleichzeitig die Schülerinnen und Schüler dazu befähigen, selbst aktiv zu werden und sich als Gestalter:innen zu begreifen.

Was können Kinder und Jugendliche durch den FREI DAY lernen und erfahren?

FREI DAY ermöglicht den Schüler:innen, die eigenen Interessen zu entdecken und sich dafür stark zu machen. Sie erfahren, dass sie etwas bewegen können, wenn sie etwas dafür tun. Die Kinder und Jugendlichen können sich frei entwickeln und lernen, in einem Team an einem Thema zu arbeiten, das sie begeistert! Oft erwerben sie zusätzlich wichtige Kompetenzen im Umgang mit digitalen Medien. Sie müssen Emails schreiben, an Videokonferenzen teilnehmen oder Präsentationen halten, weil sie ihr Projekt beispielsweise dem:der Bürgermeister:in vorstellen wollen oder sie berichten in der Schülerzeitung von ihren Projekten.

Welche Zukunftsthemen sind bei den Schüler:innen besonders beliebt?

In der Grundschule ist auf jeden Fall Plastik und Müll ein großes Thema. In den Städten befassen sich die Schüler:innen in ihren Projekten mit Obdachlosigkeit, Gleichstellung der Geschlechter, Rassismus oder Mobilität.

Gibt es ein FREI DAY-Projekt, das Sie besonders beeindruckt hat?

Ich finde es toll zu sehen, was Kinder bereits in der dritten und vierten Klasse alles auf die Beine stellen. Ein Projekt der Grundschule Bothmer aus Niedersachsen hat mich besonders beeindruckt. Hier hat sich eine Gruppe von Schülerinnen und Schülern gegen die „Elterntaxis” stark gemacht, die dort jeden Tag den Verkehrsweg vor der Schule blockiert haben. Die Kinder sind zur örtlichen Schreinerei gegangen und haben zusammen mit den Tischlern ein Schild „Nicht durch den Kreisel fahren!“ gebaut. Die Aktion war ein voller Erfolg, sogar die Presse ist darauf aufmerksam geworden.

Die Kinder und Jugendlichen erhalten bewusst keine Noten für Ihre Projektarbeit. Warum?

Wir neigen immer dazu, alles benoten zu wollen. Doch warum soll ich eine Person benoten, die sich für eine Sache einsetzt? Die Kinder engagieren sich, weil sie sich für ein Thema begeistern. Das Thema ist die Motivation, nicht die Note, die am Ende steht.

Fotonachweise
Linkes Bild: Maria Panzer
Rechtes Bild: Thomas Clemens

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