8. Juli 2021

„Ich befürchte, dass es nach der Pandemie heißt: «So, jetzt machen wir wieder normalen Unterricht.»“

Im Interview mit Bob Blume, Gymnasiallehrer

Gymnasiallehrer Bob Blume beschäftigt sich seit Jahren mit digitalen Lernkonzepten und hat dazu mehrere Ratgeber veröffentlicht. In seinen Blogbeiträgen gibt der Multimediaberater viele gedankliche Anstöße zum zeitgemäßen Lernen in der digitalisierten Welt. Der Oberstudienrat am Windeck-Gymnasium Bühl hat die Befürchtung, dass die Bildungsvermittlung an deutschen Schulen nur sehr langsam an das 21. Jahrhundert angepasst wird und sich auch nach der Pandemie nicht viel verändern wird. Denn bisher wurde zu viel verpasst – und für ein Aufholen bei der digitalen Transformation fehlen schlicht zeitliche und personelle Ressourcen.

Wie interpretieren Sie zeitgemäßes Lernen und wieso ist es im Zeitalter der Digitalisierung so wichtig?

Zeitgemäßes Lernen bezieht das vernetzte Lernen und die vier K, also Kommunikation, Kollaboration, Kreativität und kritisches Denken mit ein, was eine Schülerzentrierung zur Folge hat. Der digitale Wandel dient zum einen als Reflektion, welchen Einfluss Digitales auf die Gesellschaft hat, und zum anderen als Werkzeug, welches die Erweiterung des eigenen Lehrens und Lernens ermöglicht. Mittlerweile finde ich den Begriff allerdings auch problematisch, zumindest dann, wenn er exklusiv gebraucht wird. Ich bevorzuge „reflektiertes Lernen“, meist mit dem Beisatz „im digitalen Wandel“.

Wie zeitgemäß schätzen Sie die Bildungsvermittlung an deutschen Schulen ein?

Viele Schulen haben ohne Zweifel einen großen Sprung gemacht. Aber bisher wurde versäumt, das Lernen auch in der Breite an das 21. Jahrhundert anzupassen. Das würde nämlich bedeuten, von der reinen Wissensvermittlung hin zu einer ernstgenommenen Kompetenzorientierung zu wechseln, wie sie ja eigentlich in den Bildungsplänen steht. Grundsätzlich benötigen Schulen viel Zeit, um innovative Konzepte zu implementieren. Doch Zeit und Ressourcen sind genau die Faktoren, an denen es mangelt. Bisher haben Lehrer:innen das Gefühl, das jede Form der technischen Entwicklung oder gesellschaftspolitischen Neuheiten noch immer zusätzlich von ihnen übernommen werden muss. Von daher gibt es in Deutschland zwar schon Schulen, die „zeitgemäß“ arbeiten, aber innerhalb der Schullandschaft besteht da eine große Heterogenität.

STATEMENT

„Grundsätzlich klappt reflektiertes Lernen dort, wo digitale und räumliche Infrastrukturen bereitstehen, wo auf der Leitungsebene klare und mutige Ideen vorliegen und es Lehrpersonal gibt mit Willen, Haltung und Expertise, Veränderungen anschieben zu wollen.“

Bob Blume
Gymnasiallehrer

Müssen die Lerninhalte im digitalen Zeitalter neu definiert werden?

Ja und nein. Ja, wenn es darum geht, darüber nachzudenken, inwiefern das Digitale neue Möglichkeiten des Lernens ermöglicht. Und nein, denn mit den neuen Medien können auch traditionelle Inhalte transportiert, erarbeitet und einer neuen Perspektive unterzogen werden. Aus meiner Sicht geht es nicht darum, alles über den Haufen zu werfen, sondern dort digitale Elemente einzusetzen, wo sie sinnvoll sind. Gleichzeitig muss das Digitale auch in seiner Wirkung thematisiert werden. Da geht es dann beispielsweise um die Unterschiede in der digitalen Kommunikation, die bisher zu wenig thematisiert wurde. Die Auswüchse dieses Defizits sehen wir auf Social-Media.

Wie kann man innovative Ideen anstoßen?

Innovationen funktionieren im Allgemeinen trotz der Strukturen und nicht wegen ihnen. Der DigitalPakt ist ein sehr gutes Beispiel dafür, wie man Bürokratiemonster erschafft, deren Abarbeitung sehr lange dauert. Grundsätzlich klappt reflektiertes Lernen dort, wo digitale und räumliche Infrastrukturen bereitstehen, wo auf der Leitungsebene klare und mutige Ideen vorliegen und es Lehrpersonal gibt mit Willen, Haltung und Expertise, Veränderungen anschieben zu wollen.

Wie stehen Lehrerinnen und Lehrer zeitgemäßem Lernen gegenüber?

Da gibt es sehr große Unterschiede. Die einen begreifen das Digitale als einen Angriff auf die eigene Unterrichtskultur und verschließen sich. Eine Öffnung ihrerseits wäre durch Fortbildungsmaßnahmen möglich, die eine Anschlussfähigkeit erzeugen. Aber auch die fehlen noch – beispielsweise wurden viele Lernplattformen eingeführt, zu denen es keine passenden Fortbildungsangebote gab. Das heißt, es muss eine Eigenmotivation bei einer Lehrkraft vorliegen, sich entwickeln zu wollen und das in ihrer Freizeit. Auch wenn es natürlich auch großartige Fortbildungsformate gibt. Hinzu kommen all die Lehrer:innen, die Ideen haben, aber ausgebremst werden, weil zum Beispiel die Datenschutzlage schwierig ist, das Kollegium unterschiedlicher Auffassung ist oder weil die Kultur des gemeinsamen Arbeitens gar nicht etabliert wurde.

Könnte eine Anpassung der Lehrer:innenausbildung dafür sorgen, dass sich die Einstellungen zeitgemäßer Unterrichtsmethoden gegenüber verändern?

Auf jeden Fall. Innerhalb der Referendarausbildung liegt der Fokus momentan noch auf einer Form von Unterricht, die letzten Endes in der Realität so gut wie keine Rolle mehr spielt. Aber alles andere, wie Elternarbeit oder schülerzentrierter Unterricht, wird vorm Hintergrund der perfekten Stunde, die in einer Leistungsprüfung bewertet wird, vernachlässigt, weil der Prüfling sonst durchfallen würde.

STATEMENT

„Schulen müssten eigene Schwerpunkte setzen und freier Zeitkontingente zur Verfügung stellen können. Wenn man Lehrkräfte deutlich entlastet, die sich um Neuerungen bemühen, könnten diese freiwillig neue Prozesse anstoßen.“

Bob Blume
Gymnasiallehrer

Welches Fundament benötigt die deutsche Schullandschaft, um reflektiertes Lernen im digitalen Wandel, wie Sie es nennen, zu etablieren?

Es müsste eine starke Entschlackung der Bildungspläne erfolgen. Diese sind viel zu überladen, was dazu führt, dass Lehrkräfte das Gefühl haben, den Stoff durchbringen zu müssen. Dadurch sind innovative Maßnahmen sogenannte Extras, für die keine Zeit bleibt. Vielmehr sollten Konzepte entwickelt werden, die auf weniger Frontalunterricht basieren, sondern sich eher schülerzentrierter mit weniger oder zumindest alternativen Prüfungen auf die Fähigkeitsvermittlung konzentrieren.

Warum hält der deutsche Bildungsbereich so strikt an Lehrplänen fest?

Die deutsche Bildungslandschaft fußt auf gewachsenen Strukturen, die teilweise noch für den Preußischen Staat entworfen wurden. Warum ist der Unterricht 45 Minuten lang? Warum gibt es immer noch Prüfungen am Ende einer Einheit, obwohl sie in der Mitte doch angebrachter wären? Die Bildungspolitik ist ein behäbiger Dampfer und die Lehrpläne sind so detailliert, dass sie verhindern, Themen tiefgreifend zu diskutieren und wirkliche Kompetenzorientierung zu ermöglichen. Hinzu kommt, dass der bürokratische Aufwand von Inklusion, Integration, Organisation und Verwaltung massiv angestiegen ist.

Welche Weichen müsste der Schulträger stellen, um Neuausrichtungen zu ermöglichen?

Schulen müssten eigene Schwerpunkte setzen und freier Zeitkontingente zur Verfügung stellen können. Wenn man Lehrkräfte deutlich entlastet, die sich um Neuerungen bemühen, könnten diese freiwillig neue Prozesse anstoßen. Grundsätzlich gibt es zu wenig IT-Administratoren für zu viele Schulen. Auch hier fehlt es an Unterstützung und finanziellem Anreiz. Und die Administratoren, die es an Schulen gibt, müssen Übermenschliches leisten. Eine neue Personalpolitik ist unausweichlich.

Welchen Einfluss hat die Corona-Pandemie auf die Digitalisierung der Schulen?

An den Schulen, die bereits über eine digitale Infrastruktur verfügten, wurden in der Pandemie große Fortschritte erzielt. Aber es gibt eben auch viele Schulen, die aus verschiedenen Gründen noch keine digitale Basis hatten. Um die Aufrechterhaltung des Unterrichts aus der Ferne zu gewährleisten, haben sie zwar reagiert und zwangsweise digitale Tools genutzt, aber ich befürchte, dass es nach der Pandemie heißt: ‚So, jetzt machen wir wieder normalen Unterricht.‘

Wie lautet Ihre Prognose für die nahe Zukunft?

Ich habe Respekt davor, wie es weitergeht. Ich habe die Befürchtung, dass auf uns Lehrer:innen wieder zusätzliche Mehrarbeit zukommt, nämlich gleichzeitig die innovativen Konzepte zu erarbeiten, die Lernlücken zu schließen, und normalen Alltag zu machen mit Prüfungen, Klassenarbeiten und allem, was dazugehört. Ich fürchte, es wird keine Zeit bleiben, dass sich die Schüler:innen und Lehrer:innen sozial wiederfinden und dass wir das, was wir in der Pandemie gelernt haben, in eine neue Lernwelt übertragen können. Es gibt unglaublich viele Lehrer:innen, die ans Limit gegangen sind.

Wie wird sich die Schullandschaft in fünf Jahren gestalten?

Ich glaube leider, dass sich wenig verändern wird. Sonst müsste aus meiner Sicht etwas passieren, was in Deutschland relativ unrealistisch ist, nämlich dass Praktiker, Theoretiker und Pädagog:innen, die seit Jahren mit innovativen Methoden arbeiten, von der höheren Bürokratieebene eingeladen werden, um gemeinsam mit viel Mut neue Konzepte anzuschieben. Oder positiv ausgedrückt: Es gibt sehr viele gute Konzepte, diese müssten nur konsultiert werden. Ich wünschte mir, dass die übergeordneten Bildungsebenen sich viel deutlicher informell betätigen würden und sich die Expertise von den Lehrer:innen holen, die praktisch gearbeitet haben.

Fotonachweise
Linkes Bild: Maria Panzer
Rechtes Bild: Thomas Clemens

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