29. Januar 2018

Interview mit Helmut Hochschild

Ein Gespräch mit dem ehemaligen Schulleiter und Lehrerausbilder Helmut Hochschild darüber, was getan werden muss, um benachteiligte Schüler noch besser zu unterstützen. Das Interview fand im Rahmen der Studie „Erfolgsfaktor Resilienz“ der OECD und Vodafone Stiftung statt.

Helmut Hochschild arbeitete 25 Jahre als Lehrer, darunter von 1991 bis 2006 als Schuleiter der Paul-Löbe-Schule in Berlin-Reinickendorf und für acht Monate als Interimsschulleiter der Rütli-Schule in Berlin-Neukölln, die zuvor wegen eines Brandbriefs über die Zustände verzweifelter Lehrer bekannt geworden war. Zwischen 2006 und 2008 war er als Schulrat in Berlin-Neukölln tätig. Seit 2008 arbeitet er als Seminardirektor im Berliner Vorbereitungsdienst für das Lehramt an Grund- und Sekundarschulen.

Herr Hochschild, Sie kennen das Bildungssystem aus vielen Perspektiven. Was ist Ihrer Ansicht nach das Entscheidende, um die Widerstandsfähigkeit, also den Schulerfolg von benachteiligten Schülern zu verbessern?

Das Wichtigste ist eine wertschätzende Kommunikation – mit den Jugendlichen, aber auch zwischen den Lehrkräften, eine Kommunikation, die sich nicht auf Hierarchie stützt. Auch die Zusammenarbeit von Eltern und Schule ist zentral. Bei Jugendlichen aus sozial niedrigem Niveau ist diese Zusammenarbeit in der Regel schwierig, weil oftmals auch die Eltern Misserfolgserfahrungen mitbringen und der Schule distanziert gegenüber stehen. Meistens sucht die Schule den Kontakt zu den Eltern nur, wenn Probleme auftauchen – das verstärkt die Abwehr. Um diesen Kreislauf des Negativen zu durchbrechen, führen einige Schulen sogenannte Elterntrainings durch. Dabei werden die Methoden der Schule vorgestellt und erklärt. Sind die Vorbehalte und Ängste erst einmal abgebaut, zeigen die Eltern viel mehr Interesse, als man vermuten würde. Das Problem ist, dass die Kommunikationszeit von Lehrern noch nicht geregelt ist. Im Moment haben zum Beispiel Grundschullehrer 28 Stunden pro Woche zu unterrichten. Dass dazu viele Gespräche gehören, wird nicht berücksichtigt. Wenn das Arbeitsplatzprofil jedoch von den 39 oder 40 Arbeitsstunden Zeit für Elterngespräche, für Beratungsgespräche mit Schülern oder für Teamplanung vorsähe, würden Kommunikation und Kooperation automatisch gestärkt.

Sie haben vor allem über die Eltern gesprochen. Wie motiviert man die Jugendlichen?

Genauso. Indem man von ihren Stärken ausgeht. Anstatt sie zu benoten, sollte man sie beurteilen. Vor allem bei Jugendlichen, die in der Regel schlecht benotet werden, stören Noten bei der wertschätzenden Kommunikation. Wir brauchen eine stärkenbezogene Leistungsbeurteilung. Wenn ich es schaffe, dass der Lernende aus der Beurteilung versteht, was er braucht, um eigenständig weiterzukommen – dann haben wir gewonnen. Aus der Problemorientierung muss eine Zielorientierung werden!

Die Auswertung der PISA-Daten ergab, dass die Resilienz in Deutschland jährlich um 1 Prozent gestiegen ist. War 2006 nur jeder vierte Schüler resilient, ist es heute schon jeder dritte. Deutschland ist, was diese Entwicklung angeht, weit vorn mit dabei. Im Jahr 2006 wurden Sie auch als Interimsschulleiter an die Rütli-Schule berufen. War das Jahr 2006 in der deutschen Bildungspolitik ein Schlüsseljahr?

Das könnte man denken, ja. In Berlin hat die Umwandlung des dreigliedrigen Schulsystems mit Hauptschule, Realschule und Gymnasium zu einem zweigliedrigen mit Integrierter Sekundarschule und Gymnasium nach dem Rütli-Schock begonnen. Allein dadurch wurde das System integrativer. Wichtiger ist allerdings, dass bereits 2004 in die rechtlichen Vorgaben Ziele wie das fächerübergreifende und projektorientierte Lernen und die Förderung der Selbstständigkeit der Lernenden aufgenommen wurden.

Ein Ergebnis der Studie lautet, dass die Verbesserungen unter den resilienten Schülern vor allem auf ein positives Schulklima zurückzuführen sind: Transparente Unterrichtsregeln, wenig Lehrerfluktuation und eine Schulleitung, die in der Lage ist, ein Gemeinschaftsgefühl herzustellen. Wie schafft man das im Schulalltag. Wie sind Sie an der Rütli-Schule vorgegangen?

Bevor ich eine Lehrerversammlung einberufen und mit jedem Lehrer gesprochen habe, habe ich die Schülervertreter gefragt: Könnt ihr mir beschreiben, was dazu geführt hat, dass jetzt die Polizei vor der Tür steht? Ich habe nicht so getan, als würde ich die Lösung schon kennen, sondern die Jugendlichen um ihre Vorschläge gebeten. Daneben haben wir eine wöchentliche Gesprächsrunde eingerichtet, bei der auch die Schulsekretärin und der Hausmeister teilgenommen haben. Hausmeister erleben die Jugendliche anders als Lehrer, und diese Perspektive einzubeziehen, hat viel für das Klima an der Schule getan. Was den Unterricht angeht, haben wir uns als erstes das Fach Arbeitslehre vorgenommen, ein Fach, das sehr handlungsorientiert ist und Kompetenzen zum Beispiel aus der Mathematik und der Physik einbezieht. Für die Resilienz ist die Öffnung der Schule in das soziale Umfeld enorm wichtig. Schule als Lebensraum! Wir haben damals Schülerfirmen gegründet. Ein Soziologiestudent hat mit den Jugendlichen eine Stoffsiebdruckerei organisiert, und innerhalb weniger Monate sind die Schüler dann mit ihrer eigenen Kleidungskollektion aufgetreten. Wir haben den Jugendlichen ernsthafte Aufgaben gestellt und sie haben es uns mit Engagement gedankt. Das war der Anfang von dem, was ich `die verantwortliche Einbindung der Jugendlichen´ nenne – echte Partizipation.

Trotz der positiven Entwicklung der Resilienz ist die Bildungsungerechtigkeit in Deutschland noch immer höher als in anderen Ländern. Als 2002 die schlechten PISA-Ergebnisse Deutschland alarmierten, begann die große Zeit der Leistungstests, um das generelle Niveau anzuheben. Aber erst 2010 verabschiedete die Kultusministerkonferenz ein explizites Programm zur Förderung benachteiligter Schüler. Polemisch gefragt: Ist in Deutschland ein unbewusster undemokratischer Impuls verankert?

Die Dreigliedrigkeit der Schule hat nicht umsonst Ähnlichkeit mit einem Dreiklassensystem und rührt noch aus dem kaiserlichen Schulsystem. Auch wenn wir in einigen Bundesländern inzwischen eine Zweigliedrigkeit haben: Wir selektieren noch immer im Hinblick auf die Abschlüsse. Wer erhält die Berufsbildungsreife, wer erreicht die erweiterte Berufsbildungsreife, wer den MSA, die frühere mittlere Reife, und wer erreicht das Abitur? Hier liegt eine Crux des Systems: Weil wir abschlussbezogen selektieren, erhalten wir die Bremsklötze im System, die dazu führen, dass die Jugendlichen in dem Milieu verharren, aus dem sie kommen. Wir müssten mehr übergangsbezogen denken.

Was ist darunter zu verstehen?

Lehrer und Schüler starren nicht nur auf die Abschlussprüfungen wie die Kaninchen auf die Schlange. Stattdessen sollten viel mehr Spezialisten und Unternehmen in die Schule kommen und den Jugendlichen den Praxisbezug des Lernens ebenso wie in Praktika in Betrieben deutlich machen. Welche Kompetenzen sind nötig, wenn man diese oder jene Ausbildung anstrebt? Auf diese Weise erfahren die Jugendlichen, was sie brauchen und warum. Wenn ich verstehe, warum ich lerne, was ich lerne und meinen eigenen Einfluss auf das Lernen einschätzen kann – dann bin ich resilient. Aber auch der Unterricht könnte praxisbezogener sein. Die Schulgesetze sollten zum Beispiel so formuliert sein, dass sie den Lehrern mehr Spielräume lassen. Statt der Wochenstundenzahlen sollten man stärker Jahresstundenpensen nutzen, damit Lehrer auch in Epochen fächerübergreifend und projektorientiert arbeiten können.

Sie haben mal von ihren Erfahrungen in Schweden berichtet, wo die Institutionen eng zusammenarbeiten. Schulen, Psychologen, Jugendämter. Jedem Schüler wird viel geboten, aber gleichzeitig wird das Schuleschwänzen sofort mit Strafen für die Eltern sanktioniert? Warum macht man das nicht in Deutschland?

Das liegt an der deutschen Geschichte und der Erfahrung mit den beiden Diktaturen. Man zuckt intuitiv vor allem zurück, was mit Sanktionierung zu tun hat. In Schweden gibt es Heimeinrichtungen für Jugendliche, die zum Beispiel aus Haushalten mit Intensivtätern kommen. Das Milieu, die Umgebung ist für die Jugendlichen so toxisch, dass man sie rausnimmt, um sie zu schützen und zu unterstützen. Diese Einrichtungen sind hochtransparent und in keinster Weise mit Disziplinierungseinrichtungen aus der DDR oder der Nazizeit vergleichbar. Trotzdem habe ich mir jedes Mal starken Widerspruch eingehandelt, wenn ich nur davon sprach.

Im Moment lastet ein gehöriger Druck auf den Schulen und damit auch auf den Lehrern. Die Schule soll Chancengleichheit gewährleisten und für ein Gefühl der Zusammengehörigkeit sorgen, während die Gesellschaft immer weiter zersplittert. Lehrer müssen Wissen vermitteln und zugleich die Erzieherrolle übernehmen. Spiegelt sich das in ihrer Ausbildung wider?

Die Ausbildung ist zu stark fachorientiert. Die Didaktik wird viel zu wenig gefördert. Immerhin wurde in Berlin ein Praxissemester eingeführt, vergleichbar mit dem Arzt im Praktikum. Aber zur Rolle des Lehrers als Erzieher: Das ist nicht so kompliziert, wie es sich anhört. Wenn Lehrer verstärkt kooperativ und fächerübergreifend arbeiten, dann vermitteln sie natürlich Teamarbeit und Empathie, also gesellschaftlich relevante Fertigkeiten und Kompetenzen, nebenbei. Wir erleben gerade, dass viele Quereinsteigende als Lehrkräfte anfangen. Wenn zum Beispiel Physiker mit einem Fachdünkel und ohne fachdidaktische Ausbildung an die Schule kommen, könnte das zu Problemen führen. Doch bei den Quereinsteigenden, die ich gerade für die Grundschulen ausbilde, kann davon keine Rede sein. Die meisten bringen pädagogische Nebenerfahrungen mit und viele menschliche und soziale Kompetenzen, die die Schule bereichern. Vielleicht führen die Quereinsteigenden sogar zu der benötigten Öffnung der Schule!

Das Interview führte Andreas Schäfer

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