Interview: „Gerade haben wir auf TikTok noch die Möglichkeit, relativ isoliert mit einem jungen Publikum zu kommunizieren.“

Trotzdem fällt es vielen jungen Menschen schwer, unser politisches System zu verstehen. Deutet das auf einen enormen Nachholbedarf in Sachen politischer Bildung hin?
Ich glaube, dass viele politikwissenschaftliche Bildungsansätze daran kranken, dass sie persönliche Verbindungen unterschätzen. Am wichtigsten ist es, mit Entscheidungsträger:innen in Verbindung zu kommen. Das passiert klassischerweise über Parteien. Parteien als meinungs- und willensbildende Organisationen leisten starke politische Bildungsarbeit, im Besonderen die Jugendorganisationen. Leider werden sie immer noch sehr unterschätzt und zu oft in die parteipolitische, rein machtpolitische Ecke gedrängt. Ich glaube, wir müssen über die Idee hinwegkommen, dass man in eine Partei eintritt und dann mit den Füßen voran wieder herausgetragen wird. Man kann auch ganz wunderbar nur ein paar Mal zu einer Partei gehen, sich informieren und dann nie wieder kommen. Einen zweiter Punkt ist mir wichtig: Wir müssen mehr Abgeordnete in die Schulen holen. Gerade jetzt, wo wir so viele junge Leute im Parlament haben. Sie können eine Vermittlungsfunktion übernehmen. Und damit meine ich nicht die Vermittlung parteipolitischer Inhalte, sondern die demokratischer Prozesse. Vielleicht sollte man eine Stelle im Bundestag ansiedeln, die genau diesen Austausch organisiert.
Was tun Sie persönlich, als junger Abgeordneter, um gezielt mit jungen Menschen in Kontakt zu kommen?
Das ist gar nicht so einfach, weil sich auf vielen
Kanälen die Altersgruppen mischen. Für einen gezielten
Austausch mit jungen Menschen ist das ein
großes Problem. Gerade haben wir auf TikTok noch
die Möglichkeit, relativ isoliert mit einem jungen
Publikum zu kommunizieren und Sprache, Ästhetik
und Authentizitätslevel auf es einzustellen. Auf
Instagram und auf Twitter kommt allmählich eine
Audience dazu, die das unseriös fi ndet. Am besten
komme ich aber in Schulen oder auf Jugendkonferenzen
mit jungen Menschen ins Gespräch – oder wenn
ich gezielt junge Initiativen einlade.
Haben Politiker:innen – gerade auch gegenüber jungen Menschen – eine besondere Verantwortung, was die Themen Desinformation und Hate Speech auf sozialen Plattformen angeht?
Die junge Generation erkennt Falschinformationen viel besser als ältere Generationen – das haben diverse Studien gezeigt. Trotzdem ist es natürlich unsere Pflicht als politische Akteur:innen, genau zu prüfen, was wir teilen, und offen damit umzugehen, wenn wir selbst auf Desinformation reingefallen sind. Hate Speech ist ein schwieriges Thema. Ich finde es sehr wichtig, dass alles, was strafrechtlich relevant ist, auch strafrechtlich verfolgt wird. Gleichzeitig darf aber auch kein Overblocking stattfinden. Wir dürfen nicht den Fehler machen, dass wir die Grenzen zwischen harscher Kritik und Hate Speech zu sehr verwischen.
Fotonachweise
Philipp Sigle