15. April 2021

Veränderung auf Knopfdruck

Von Verena Knoblauch, Lehrerin und Medienpädagogin

 

Leere Flure, verwaiste Klassen, weder Kinder noch Kollegen, kein Laut, kein Lachen, nichts. Nur dröhnende Stille. Im März 2020 war das plötzlich Realität. Über Nacht war normaler Unterricht nicht mehr möglich. Die Schulen, sonst Lern- und Lebensraum für Millionen Kinder und Jugendliche, mussten wegen der Pandemie schließen. Wie auf Knopfdruck sollten sich die Schulen nun verändern Aber geht das überhaupt? Zunächst einmal: Die Krise verstärkte, was vorher schon Realität war. SchülerInnen, die zurückblieben, weil ihnen zu Hause die nötige technische Ausstattung oder die Unterstützung des Elternhauses fehlte. Schulen, die keinen Plan für die Krise hatten, weil sie sich bislang noch nicht vertieft mit dem Thema Digitalisierung beschäftigt hatten, weil keine Infrastruktur zur Kommunikation mit Eltern und SchülerInnen bestand oder es schlicht keine Erfahrung mit digitaler Arbeit gab. Die Krise zeigte wie unter dem Brennglas, was strukturell schiefläuft in unserem Bildungssystem. Und wie meisterten Lehrkräfte diese Krise? Die Bandbreite der Antworten könnte kaum größer sein. Manche Lehrkräfte hatten gleich zu Anfang einen Plan und legten los. Viele waren pragmatisch und engagiert. Andere waren dagegen kaum erreichbar. Auch was die Nutzung digitaler Technologien betrifft, war das Spektrum groß. Jene Lehrkräfte, die sich schon vor der Pandemie mit digitaler Bildung beschäftigt hatten und die technischen Möglichkeiten besaßen, wurden schnell kreativ und fanden Lösungen. Vielen Lehrerinnen und Lehrern wurden durch die Schulschließung die Vorteile des digitalen Arbeitens bewusst. Die Lehrkräfte besuchten Fortbildungen, probierten aus und machten sich auf den Weg. Der Fortbildungswille war riesig. Online-Bildungsangebote am Abend oder in den Ferien? Häufig gerammelt voll.

Während viele Lehrkräfte eine Fortbildung nach der anderen besuchten, gab es auch KollegInnen, die sich weiterhin nicht mit digitalen Möglichkeiten auseinandersetzten. Ihnen pauschal Faulheit oder Desinteresse zu unterstellen, ist falsch. Für mich ist es auch keine Frage des Alters. Nach meiner Erfahrung sind die Gründe dafür eher Berührungsängste, zeitliche und technische Überforderung, aber auch Frustration wegen schlechter Ausstattung und mangelndem Support. Ängste und Falschinformationen, die Digitalisierungsgegner im Netz verbreiten, dürften ebenfalls dazu beigetragen haben. Wenn wir Lehrerinnen und Lehrer stärken wollen, müssen wir ihre Ängste systematischer erfassen und die Heterogenität der Lehrkräfteschaft in den Fortbildungsangeboten spiegeln. Es ist notwendig, den Nutzen digitaler Weiterbildung stärker in den Vordergrund zu stellen. Der Fokus meiner Beratung und Fortbildung während der Krise lag zum Beispiel nicht darauf, wie auf digitalem Weg Übungsaufgaben möglichst effektiv übermittelt werden können, sondern auf der Frage, wie man pädagogische Beziehungsarbeit digital aufrechterhalten kann. Wie lassen sich Kommunikation, Feedback und Zusammenarbeit mithilfe digitaler Medien ermöglichen, obwohl man nicht gemeinsam im Klassenzimmer anwesend sein kann? Diese Fragen haben meine Kolleginnen und Kollegen – und mich selbst – bewegt.

STATEMENT

„Technische Infrastruktur allein genügt nicht. Man braucht auch Zeit. Das digitale Arbeiten muss geübt und angebahnt werden. […] Das gilt übrigens für Lehrkräfte genauso wie für SchülerInnen.“

Verena Knoblauch
Lehrerin und Medienpädagogin

Schon einfache, pragmatische Ansätze konnten guten Unterricht ins Digitale übersetzen: Auf vielfältige Weise wurden digitale Lernräume eingerichtet, etwa durch Gruppenarbeit in Breakouträumen per Videokonferenz oder Projektarbeit über kollaborativ bearbeitbare Dokumente auf geeigneten Plattformen. Wenn der persönliche Kontakt unmöglich wird, bekommt individuelles und zeitnahes Feedback eine noch größere Bedeutung: Sprachaufnahmen, bereitgestellt als QR-Code oder Link, sind eine geeignete Technologie für eine nahbare Leistungseinschätzung jenseits von Noten. Technische Infrastruktur allein genügt nicht. Man braucht auch Zeit. Das digitale Arbeiten muss geübt und angebahnt werden. Das kann man nicht plötzlich, wenn man es vorher nie gemacht hat. Das gilt übrigens für Lehrkräfte genauso wie für SchülerInnen. Digital affine KollegInnen feierten im Frühjahr die digitale Revolution, ausgelöst durch die coronabedingte Schulschließung. In meinen Augen aber fand eine solche Revolution nicht statt. Sondern es wurde primär Krisenmanagement betrieben. Dieses Krisenmanagement gelang an mancher Stelle hervorragend – und scheiterte an anderer Stelle vollständig.

Nun sind einige Monate verstrichen. Wir alle haben Erfahrungen gesammelt. Ja, die Chancen sind da und es ist nun an uns, sie zu sehen und zu ergreifen. Wichtig ist, sich gleichzeitig der nötigen Voraussetzungen und Herausforderungen bewusst zu sein. Sonst entpuppt sich eine vermeintliche Chance schnell als Sackgasse. Denn: Nur wer die Stolpersteine auf dem Weg kennt, kann die Chancen wirklich nutzen. Unsere Chance: Aufgrund der Erfahrungen mit dem Fern- und Hybridunterricht wird kaum noch infrage gestellt, ob digitale Technologien gebraucht werden. Digitalisierung im Bildungsbereich ist kein Randthema mehr. Viel Geld wird in Leih- und Dienstgeräte investiert. Umso wichtiger ist es, die Frage nach dem Wie nicht aus den Augen zu verlieren. Die Sehnsucht nach der gewohnten Normalität ist groß. Leicht tappen wir daher in die Falle, die Chance der Digitalisierung lediglich darin zu sehen, alle herkömmlichen Prozesse 1 : 1 ins Digitale zu übertragen. Damit würde die wahre Chance übersehen: durch den Digitalisierungsschub darüber nachzudenken, wie Schule, Unterricht und Lernen in einer Kultur der Digitalität aussehen könnte. Deren Ziel muss es sein, den jungen Menschen die Kompetenzen mitzugeben, am gesellschaftlichen Leben mitbestimmend teilhaben zu können und ein mündiges und souveränes Leben zu führen. Wenn wir eine neue Lernkultur anstreben, müssen wir auch Prüfungsformate und -modalitäten überdenken. In der Krise waren Prüfungen und Noten ein viel diskutiertes Thema. Kollaborativ und fächerübergreifend lernen, um dann in einem Prüfungsformat unter Zeitdruck auswendig gelerntes Wissen hektisch aufs Papier zu kritzeln, das passt nicht zusammen. Ideen für alternative Prüfungsformate existieren: Zum Beispiel könnten SchülerInnen in einem multimedialen Portfolio ihre Auseinandersetzung mit einem bestimmten Thema zusammenstellen und präsentieren. Oder wie wäre es mit Podcast statt Hausarbeit? Wenn wir gedanklich schon dabei sind, Strukturen aufzubrechen, sollten wir auch über Fachgrenzen und Lernorte nachdenken. Lernen findet nicht zwangsläufig getrennt nach Fächern oder frontal sitzend im Klassenzimmer statt. Wer digitale Bildung während und nach der Krise lebt, lebt auch projektorientiertes Lernen und versteht Lehrkräfte als Lernbegleiter. Der fehlende persönliche Kontakt während der Schulschließung hat uns wesentliche Aspekte der Schule und des Unterrichts vor Augen geführt. Die Schule ist ein Ort der sozialen Interaktion, der Kommunikation und der Zusammenarbeit. Wir sollten diese Erkenntnis als Chance nutzen, uns die zentrale Bedeutung der Schule als Ort der Begegnung und des Austauschs bewusst zu machen und Beziehungsarbeit zu stärken. Zu Beginn der Corona-Krise war ein Versprechen zu hören: Kein Schüler wird zurückgelassen. Nur: Was ist daraus geworden?

STATEMENT

„Neben der technischen Ausstattung brauchen wir ein breit angelegtes, prozessbegleitendes Fortbildungsangebot, um die Lehrkräfte zu befähigen, die Technik sinnvoll im Unterricht zu nutzen.“

Verena Knoblauch
Lehrerin und Medienpädagogin

Viele Eltern und Kinder klagten im Herbst über enormen Notendruck. Sie berichteten entmutigt und frustriert darüber, dass fast jeden Tag Prüfungen geschrieben wurden. Verpassen wir hier gerade Chancen? Die Chance, uns auf das zu besinnen, was Schule und Unterricht ausmacht. Die Chance, Lehrplaninhalte und Prüfungsbestimmungen zu überdenken. Die Chance, Bildungsgerechtigkeit anzustreben. Die Krise hat uns eindrücklich gezeigt, was wir eigentlich schon lange wussten: Es gibt keine Patentlösungen. One size fits all? Was schon bei Kleidung nicht ordentlich sitzt, funktioniert im Bildungsbereich erst recht nicht. Weder im Fern-, noch im Präsenzunterricht. Dazu sind die Voraussetzungen und die beteiligten Personen zu unterschiedlich. Nicht jedes Kind lernt auf gleiche Weise. Weder im selben Tempo noch mit denselben Methoden. Und nicht jede Schule ist wie die andere. Das war übrigens schon immer so und zeigt, warum individualisiertes Lernen wichtig ist. Die Chancen können nur genutzt werden, wenn SchulleiterInnen und Lehrkräften der Rücken gestärkt wird. Wenn den Schulen jetzt wirkliche Freiräume zugemessen werden, je nach den örtlichen Bedingungen selbst Entscheidungen zu treffen und individuelle Lösungen zu finden. Im Bereich der Digitalisierung brauchen wir – neben der technischen Ausstattung von Lehrkräften und SchülerInnen – Rechtssicherheit bei der Nutzung digitaler Angebote. Wir brauchen ein Konzept, wie die digitalen Geräte eingesetzt werden sollen. Damit ist nicht ein Papier gemeint, das geschrieben werden muss, um die Ausstattung zu beantragen, und das anschließend unbeachtet in der Schublade liegt. Sondern ein Plan, vielleicht auch eine Vision, wie Schule und Unterricht gestaltet und verändert werden können.

Neben der technischen Ausstattung brauchen wir ein breit angelegtes, prozessbegleitendes Fortbildungsangebot, um die Lehrkräfte zu befähigen, die Technik sinnvoll im Unterricht zu nutzen. Und wir brauchen Entlastungen für die Lehrkräfte, damit sie diese Angebote dann auch wahrnehmen können – sowie Austausch zwischen Lehrkräften, Schulen, Bundesländern. Wir brauchen außerdem Neugierde und vielleicht auch etwas Mut, die ausgetretenen Pfade zu verlassen und neue Wege zu gehen, Mut, über den Tellerrand zu gucken, sich auszutauschen und zu vernetzen. Veränderung gelingt nicht auf Knopfdruck, erst recht nicht in unserem Bildungssystem. Aber sie kann gefördert, gepflegt, behutsam angestoßen werden. Die Krise hat gezeigt, dass in kurzer Zeit Und wir brauchen Entlastungen für die Lehrkräfte, damit sie diese Angebote dann auch wahrnehmen können – sowie Austausch zwischen Lehrkräften, Schulen, Bundesländern. Wir brauchen außerdem Neugierde und vielleicht auch etwas Mut, die ausgetretenen Pfade zu verlassen und neue Wege zu gehen, Mut, über den Tellerrand zu gucken, sich auszutauschen und zu vernetzen. Veränderung gelingt nicht auf Knopfdruck, erst recht nicht in unserem Bildungssystem. Aber sie kann gefördert, gepflegt, behutsam angestoßen werden. Die Krise hat gezeigt, dass in kurzer Zeit viel verändert werden kann.

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