25. Februar 2021

Das New Progressive: Warum ein New Normal nach Corona nicht ausreicht

Von Dr. Hannes Ametsreiter, Vorsitzender des Beirats der Vodafone Stiftung

Die Corona-Pandemie ist die bisher größte globale Herausforderung des noch jungen 21. Jahrhunderts. In wenigen Wochen hat sie Anfang 2020 weite Teile der Weltwirtschaft, des öffentlichen Lebens und sogar unseres Privatlebens zum Erliegen gebracht. Mit der rekordverdächtig schnellen Entwicklung von Impfstoffen ist Anfang 2021 ein Ende der unmittelbaren gesundheitlichen Risiken in Sicht. Die Auswirkungen auf Wirtschaft, Politik und Gesellschaft werden uns aber noch lange begleiten.

Corona schmerzt. Denn die Pandemie zeigt schonungslos, wo Ungleichheiten und Missstände in unserer Gesellschaft herrschen. Aber Corona lehrt zugleich. Denn es macht deutlich, wo wir umlenken und vorpreschen müssen. Wir haben die einmalige Chance, aus der Krise zu lernen. Aus dem Guten wie dem Schlechten. Große Teile der Wirtschaft wurden geschwächt, andere blühten mit dem plötzlichen Digitalisierungsschub auf. Menschen fühlten sich eingesperrt, andere haben neue Freiheiten entdeckt.

Die angespannte Situation hat uns zusammengeschweißt, Teile der Gesellschaft aber auch abgespalten. Zu Beginn des neuen Jahres – eines Wahljahres in Deutschland – gilt es zu erkennen, dass die Disruption Corona uns die Möglichkeit eröffnet, die Dinge komplett neu aufzusetzen und konsequent zukunftsorientiert zu agieren. Diese Chance müssen wir ergreifen!

Fest steht: Corona war der größte Digitalisierungsschub aller Zeiten. Millionen Menschen stellten vollständig um auf Homeoffice, Homeschooling und Home-Entertainment. Die Datennutzung schnellte in die Höhe, bargeldloses Zahlen ist eine Selbstverständlichkeit, Serien-Streamen neuer Volkssport. So klar haben wir die Vorzüge digitaler Technologie bisher noch nie erlebt. So schonungslos haben wir ihre Schattenseiten bisher nicht erfahren.

STATEMENT

„Zufall und Glück dürfen nicht entscheiden, ob Kinder von digital versierten Lehrerinnen und Lehrern unterrichtet werden. Hier muss eine Vision her. Eine Strategie. Und eine sofortige Umsetzung. Bundesweit.“

Dr. Hannes Ametsreiter
Vorsitzender des Beirates der Vodafone Stiftung

2020 war das Jahr des Homeoffice. Vom Schreibtisch, Küchentisch oder Esstisch aus sind dabei viele über sich selbst hinausgewachsen. Bisherige Online-Skeptiker haben sich für die digitale Welt geöffnet. Und viele entdeckten trotz der Einschränkungen neue Freiheiten: Video-Calls statt Dienstreisen, Familienfrühstück statt Pendelei. Zwischendurch Einkaufen, Sport, die Kinder abholen und dafür abends noch mal kurz an den Rechner. Sie schätzen die neue Flexibilität und das selbstbestimmte Arbeiten. Die meisten von ihnen möchten auch nach Corona weiter aus dem Homeoffice arbeiten können.

Doch es gibt auch eine Kehrseite. Denn aus Zoom wird nie ein echtes Ideenfeuer. Ein Emoji im Teams-Chat kann ein Schulterklopfen nicht ersetzen. Und ein Winken am Bildschirm keine Umarmung. Der soziale Kontakt fehlt den Menschen in Deutschland. Im Beruflichen wie Privaten. Sie klagen über Angst, Motivationslosigkeit und Isolation. Taubheit, die sich wie Mehltau über sie legt. Denn Kontakt bedeutet auch ein Korrektiv. Andere Menschen, die hinsehen, mitfühlen, sich kümmern. So sind die Straftaten im Bereich häuslicher Gewalt nach oben gegangen – genau wie Alkohol- und Zigarettenkonsum. Klar ist also: Das Hohelied aufs Homeoffice kennt auch Molltöne. Und da müssen wir genau hinhören. Der Arbeitsplatz der Zukunft muss auf Flexibilität und Freiwilligkeit gebaut sein. Sicherheit, Beratung und Fürsorge müssen auch digital zur Verfügung stehen.

Nachdenklich stimmen sollte uns aber auch, dass sich gerade die Jungen, die vermeintlichen „Digital Natives“, während des Lockdowns am einsamsten fühlten. Denn der radikale Umstieg ins Digitale hat eine gravierende Schwachstelle offenbart: Beim Thema digitale Bildung sind wir in der Corona-Klasse sitzen geblieben. Das war vielerorts eine „glatte 6“. Gerade einmal 7 Prozent der Schulkinder hatten im Frühjahr 2020 täglich digitalen Unterricht, berichten ihre Eltern. Und nur ein Drittel der Lehrkräfte gab an, in der Zeit des Distanzlernens alle ihre Schülerinnen und Schüler erreichen zu können.

Abgehängt wurden vor allem diejenigen Kinder und Jugendlichen, die es von Hause aus sowieso schwer haben. Alleingelassen mit überforderten Eltern, weil im Wirrwarr des Bildungsföderalismus digitales Lernen an den meisten deutschen Schulen weiterhin ein Fremdwort ist. Klar gibt es Ausnahmen: Schulen, die ganz selbstverständlich Lernplattformen nutzen, über Teams unterrichten und bedürftige Schülerinnen und Schüler mit Tablets für zu Hause ausstatten.

Auch haben wir in Deutschland fantastisch innovative und kreative Lehrkräfte, die Lehrvideos drehen, Online-Sprechstunden anbieten und Lateinvokabeltrainer programmieren. Die Bildung und Sozialisation unserer Kinder dürfen aber kein Lottospiel sein. Zufall und Glück dürfen nicht entscheiden, ob Kinder von digital versierten Lehrerinnen und Lehrern unterrichtet werden. Hier muss eine Vision her. Eine Strategie. Und eine sofortige Umsetzung. Bundesweit.

STATEMENT

„Corona hat uns alle kalt erwischt. Und uns gleichzeitig die Chance gegeben, nicht bloß ein «New Normal», sondern ein «New Progressive» zu schaffen. Packen wir es an!“

Dr. Hannes Ametsreiter
Vorsitzender des Beirates der Vodafone Stiftung

2020 war auch das Jahr ungeahnter gesellschaftlicher Kräfte. Mit gestärktem Zusammenhalt, wahrer Opferbereitschaft, mehr Nächstenliebe. Ärztinnen, Kassierer, Krankenpfleger, Lokführerinnen, Busfahrer, Polizistinnen, Feuerwehrleute – sie haben das Land am Laufen gehalten und tun das noch immer. Und wo sich Missstände zeigten, wurden gemeinsam Lösungen gesucht.

Beim #WirVsVirus-Hackathon kamen virtuell 28.361 Menschen zusammen und haben in 48 Stunden an über 1.500 Ideen gearbeitet: für mehr digitale Bildung, einfachere Gesundheitsvorsorge, gesundes Essen, digitale Kulturevents oder gegen häusliche Gewalt. Die äußerliche Distanz hat uns innerlich zusammenrücken lassen: Darauf können wir stolz sein.

Allerdings entziehen sich Teile der Gesellschaft diesem Gemeinschaftsgefühl, sie spalten sich ab. Statt #WirVsVirus heißt es #WirGegenDie. Aus Wut oder Enttäuschung. Aus Angst und Verunsicherung. Viele suchen verzweifelt nach einfachen Antworten – und bekommen sie meist leider von den Falschen. Die Pandemie, so attestiert die WHO, wird begleitet von einer „Infodemie“, in der Halbwissen und Verschwörungstheorien prächtig gedeihen. Selten ist in Deutschland digitale Meinungsmache so rasch übergeschwappt in reale Proteste mit Auswirkungen bis auf die Treppen des Reichstags.

81 Prozent der jungen Menschen in Deutschland sehen in der Verbreitung von Falschnachrichten daher auch eine Gefahr für die Demokratie. Wir müssen aufpassen, dass das Virus nicht zum Spaltpilz wird. Und Lösungen finden, wie wir alle wieder um einen Tisch bekommen. Um gemeinsam nach vorne zu blicken.

Der Lockdown bedeutete auch weniger Autos auf den Straßen, weniger Flugzeuge am Himmel, weniger rauchende Industrieschornsteine. Erhebungen zeigen mit 7 Prozent den stärksten Rückgang an CO2-Emissionen in der Geschichte der Menschheit. Für unsere Umwelt hieß all das: durchatmen. Allerdings ist das nur eine erzwungene Pause, eine unbeabsichtigte, positive Nebenwirkung der Pandemie, wenn man so will. Sie wird die fortschreitende Erderwärmung nicht stoppen. Was passiert, wenn weltweit die Wirtschaft wieder hochfährt? Gehen wir dann bewusster mit unserem Planeten um? Wird Nachhaltigkeit dann im gleichen Atemzug mit Wachstum und Wohlstand genannt? Sie sollte es, denn die Digitalisierung macht auch das möglich.

In nahezu allen Bereichen können smarte digitale Lösungen Energie sparen und Ressourcen schonen: in der Produktion, der Verwaltung, der Logistik, im Verkehr, in Städten und zu Hause. Selbst beim Datentransfer ist schneller gleich weniger. Bestes Beispiel: 5G. Das Echtzeit-Netz überträgt die gleiche Datenmenge mit fast 80 Prozent weniger Energie als sein Vorgänger 4G/LTE.

Nachhaltigkeit ist daher eine Frage des Willens, nicht mehr der verfügbaren Technologie. Dafür sind wir alle gefragt: ob Privatpersonen, Unternehmensvorstände, Vertreter und Vertreterinnen in der Politik. Wir müssen erst umdenken und dann unser Handeln ändern. Und ja, wir müssen auch verzichten und lieb gewonnene Gewohnheiten aufgeben. Und zwar jetzt.

Was es jetzt zu tun gibt

Geben wir der Natur mehr als nur eine Atempause

Umweltschutz darf kein Nebenprodukt des Lockdowns bleiben, sondern muss endlich dauerhaft im Fokus stehen. Die Jugend hat mit „Fridays for Future“ geschafft, was keiner für möglich gehalten hat: Das Thema Nachhaltigkeit nach ganz oben auf die Agenda zu katapultieren – in der Bevölkerung, in der Politik, in der Wirtschaft. Die junge Generation tritt entschlossen und zielstrebig für ihre Überzeugung ein. Wir müssen ihnen jetzt Rückenwind geben. Dafür muss nachhaltiges Handeln ins kollektive Bewusstsein. Dabei ist Digitalisierung nicht Teil des Problems, sondern ein Teil der Lösung. Homeoffice und Video-Konferenzen bedeuten weniger Stress, Stau und CO2. Wir können jährlich Millionen Tonnen an CO2 einsparen, wenn wir mehr im Homeoffice arbeiten und statt Dienstreisen zur Video-Telefonie greifen. Und Unternehmen müssen auf Grünstrom setzen. Wir alle sind Teil des Problems. Und können alle Teil der Lösung werden.

Umarmen wir die Digitalisierung und feiern wir das Menschliche

In der Krise haben wir zu schätzen gelernt, was vorher selbstverständlich war: zuverlässige und leistungsstarke Netze. Hier müssen wir dranbleiben: Investieren wir in Infrastruktur. In der Stadt, auf dem Land, für digitale Schulen und Unis sowie digitale Unternehmen. Investieren wir in Entwickler, in Innovatoren, in Start-ups. In all diejenigen, die Digitalisierung bauen. Und am wichtigsten: Investieren wir in diejenigen, welche die digitale Gesellschaft ausmachen – uns alle. Senioren, Lehrkräfte, Arbeitnehmende, Kinder. Sie alle müssen verstehen, wie Algorithmen funktionieren, wie man Desinformation enttarnt, wie digitale Technologien unsere Arbeit unterstützen können. Werden wir digital! Und tun wir es klug. Mit einer Offenheit für die Schattenseiten. Je besser wir mit dem Digitalen umgehen, desto mehr Platz können wir auch dem Analogen in unserem Leben einräumen. Machen wir Brainstorming im Team statt Teams-Umfragen. Führen wir echte Gespräche beim Abendessen, statt virtuelle Shitstorms auszulösen. Stöbern wir im Laden um die Ecke, statt dem Kaufalgorithmus online zu folgen. Schalten wir Handy, Laptop und Smartwatch ab – und atmen analog durch. Denn die Technik muss dem Menschen dienen, nicht umgekehrt.

Packen wir unsere Zukunft mutiger an

Wenn es hart auf hart kommt, können wir auf uns und andere zählen. Wir können schneller lernen, als wir jemals gedacht hätten. Wir können uns radikaler umstellen, als viele für möglich gehalten hätten. Ich wünsche mir, dass wir mit diesem Wissen mutiger in die Zukunft blicken. Dass wir konsequenter die Dinge angehen, die uns durch die Krise offenbart wurden. Dass wir denen zuhören, die mit der Situation überfordert sind, statt sie auszugrenzen. Dass wir den sich weitenden „Digital Gap“ überbrücken, statt neue Ungleichheiten zu schaffen. Dass wir Wege finden, diejenigen zu schützen, die in der Krise kein Gehör fanden. Dass wir ein verantwortungsvolles Maß von Digitalisierung und Menschlichkeit erreichen, indem wir unsere Haltung ändern: von „The winner takes it all“ zu „We all take the win“. Corona hat uns alle kalt erwischt. Und uns gleichzeitig die Chance gegeben, nicht bloß ein „New Normal“, sondern ein „New Progressive“ zu schaffen. Packen wir es an!

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